Kottenforst
eine halbe Stunde zum Umkleiden, Schminken und Zurechtlegen ihrer Requisiten in dem kleinen Raum hinter der Bühne aufgehalten. Wenn ein Fremder hereingekommen war und den Kasten entwendet hatte, musste es ihnen aufgefallen sein. Und wenn der Fremde den Raum erst im Dunkeln betreten hatte, war er an den Spielern, die hinter der Bühne bereitstanden, vorbeigegangen, was sie ebenfalls hätten bemerken müssen.
Pilar blickte auf die Uhr. Vierzehn Uhr zwanzig. An einem Freitag war das keine ungünstige Zeit, um die Jugendlichen zu Hause anzutreffen. Sie hatte einen guten Draht zu den Mitgliedern ihrer Gruppe. Wenn etwas krumm gelaufen war, würden sie es ihr eher anvertrauen als der Polizei. Immer hatte sie ein offenes Ohr für Probleme mit Eltern, Lehrern, Freunden und Geschwistern gehabt, hatte getröstet, aufgerichtet und ihnen Verständnis entgegengebracht. Dir kann ich es ja sagen, Pilar – wie oft hatte sie diesen Satz in den acht Jahren ihrer Theaterarbeit gehört. An manchen Tagen hatten sie mehr über Probleme geredet als geprobt.
Sie war Schritttempo gefahren und mittlerweile am Ende der Straße angekommen. Sie setzte den Fiesta in eine Parkbucht und ging zurück zu dem Haus mit der offen stehenden Mülltonne.
Der kleine Vorgarten wirkte zerzaust. In den zerknickten Zweigen eines Strauchs hing eine nasse Socke. Aus der Wand ragte ein Metallarm mit den gezackten Resten eines Glasgehäuses und einer Glühbirne. Vor der Tür lag keine »Welcome«-Matte, sondern ein verkrusteter Kokosabtreter, umgeben von Kippen und Glassplittern. Pilar wusste, dass Katies Vater eine neue Familie in Frankfurt hatte und ihre Mutter oft bis spätabends als Aufnahmeleiterin bei einer Filmproduktion in Köln arbeitete. Das Haus machte den Eindruck, als hätte auch die Mutter das Interesse an der Familie verloren.
Pilar drückte auf die Kunststoffklingel, bemüht, nicht den grauen Knubbel aus altem Kaugummi zu berühren, der das halbe Namensschild bedeckte, sodass nur noch das »Gä« von »Gärtner« zu erkennen war.
Die Tür öffnete sich eine Handbreit. Der Geruch von altem Frittenfett mischte sich mit den Abgasen eines Lastwagens, der hinter Pilar durch die schmale Straße fuhr.
»Was willst du?«, nuschelten die bonbonroten Lippen vor ihr.
Pilar spürte, dass sich etwas verändert hatte zwischen ihnen. Sie sandte ein Freundschaftslächeln durch den Spalt, doch Katie erwiderte es nicht.
»Wollte nur was fragen, Katie, bin gleich wieder weg. Aber lass mich bitte rein, es ist kalt.« Der Spalt verbreiterte sich. Pilar kam es so vor, als wehte ihr von drinnen eine ganz andere Kälte entgegen, die ihr mehr zu schaffen machen würde.
Katie trug Stiefel und einen kurzen Rock, beides rot und aus Leder. Ihre Beine bedeckte bunt geringeltes Strumpfwerk, das an den mageren Knien kleine Falten bildete.
»Schick«, sagte Pilar, als sie eintrat. »Neu?«
»Hab ich schon ewig.«
Aus dem Augenwinkel meinte Pilar auf der Holztreppe, die nach oben führte, etwas wahrzunehmen – einen lautlosen Schatten, der im selben Moment verschwand. Vielleicht Marvin, Katies Bruder, der sich auf Socken davonschlich. Womit er seine Zeit verbrachte, wusste Pilar nicht genau. Abgesehen davon, dass er in dem Verdacht stand, kürzlich den Postkasten an der Busschleife zur Explosion gebracht zu haben, hieß es, er habe erst die Schule und dann eine Lehre abgebrochen und räume nun die Regale im Drogeriemarkt an der Basketshalle ein. Abends sah man ihn oft mit seiner Clique in einem der Ückesdorfer Wäldchen oder an wechselnden Plätzen im Kottenforst, wo Spaziergänger am nächsten Tag auf ihre Spuren in Form von Kippen, Dosen und Plastikpackungen stießen.
»Und?«, fragte Katie und schob sich eine Strähne ihres glatten braunen Haars in den Mund.
»Mein gelber Handwerkskasten ist verschwunden.«
»Was für’n Kasten?«
»Ist eigentlich ein Pferdeputzkasten. Ein Erinnerungsstück an das Pferd, das ich mal hatte.«
»Was für’n Pferd?«
»Hast du eine Ahnung, wo er geblieben ist? Man kann den kaum übersehen. Der leuchtet wie ein Briefkasten.«
Katie kaute auf der Haarsträhne herum. »Nie gesehen.«
»Da war das Werkzeug für den Bühnenkram drin, Hammer, Schere, Zange. Du hast die Kiste oft gesehen.«
»Hä? Hab ich nicht!« Die Haarsträhne rutschte ihr aus dem Mund. Sie stampfte mit dem Fuß auf wie ein trotziges kleines Mädchen.
Wie alt war sie eigentlich? Sechzehn? Siebzehn?
»Der Kasten stand in dem Raum hinter der Bühne unter dem
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