Kottenforst
Tisch«, sagte Pilar.
»Unter welchem Tisch?«
»Hast du irgendwen bemerkt, der nicht zur Gruppe gehörte und am Samstag mal kurz dort drin war?«
»Hä? Die Anna hat ihren großen Spiegel mitgebracht, und wir haben uns geschminkt.«
»Und danach?«
»Wie danach? Ich hab keinen gesehen. Kannst ja die andern fragen.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war offensichtlich, dass sie Pilar loswerden wollte.
»Hat die Polizei euch schon als Zeugen vernommen?«
Katie zwirbelte die nasse Haarsträhne um den Zeigefinger und nickte. »Die haben einen auf Jugendversteher gemacht. Fehlten nur noch die Gummibärchen. Aber wenn ich nichts gesehen hab, dann hab ich nichts gesehen.«
»Logisch.«
Über sich vernahm Pilar ein leichtes Knacken, als ob sich im ersten Stock jemand aufs Treppengeländer stützte. Da oben hört einer zu, dachte sie, er legt Wert darauf, nicht bemerkt zu werden.
»Jedenfalls danke.« Pilar drückte die Türklinke herunter, die sich klebrig anfühlte. In dem hellen Licht an der offenen Tür sah sie, dass Katies Augen taubenblau umrandet waren. Das erinnerte sie an etwas.
»Kennst du die Waldclique? Ich meine, die hätte ich am Samstag ganz hinten im Saal gesehen.«
»Die kennt jeder. Ich könnt aber echt nicht sagen, wer von denen da war.«
»Dein Bruder Marvin zum Beispiel.«
»Stimmt.«
»War Jens, der Bruder von Anna, auch dabei? Oder heißt der Jörg?«
»Wieso weißt du das nicht? Der hat mal zur Theatergruppe gehört.«
Jetzt war es Pilar, der ein »Hä?« herausrutschte. Verflixtes Gedächtnis!
»Am Anfang. Da war die Anna noch nicht dabei«, erklärte Katie. »Yannick heißt der.«
Der Anfang war lange her. Damals hatte die Gruppe mehr als zwanzig Mitglieder gehabt. Jetzt erinnerte sich Pilar an den blassen Blonden, der sich saumäßig benommen hatte und nicht mehr erschienen war, nachdem Pilar ihm klargemacht hatte, dass zum Theaterspiel auch Disziplin gehörte. Natürlich, er war Annas Bruder, das war ihr entfallen. Anna war ganz anders, auch äußerlich.
»Ist Yannick am Samstag da gewesen?«
»Warum sollte er?«, gab Katie zurück. »Der findet Theater doof.«
»Auch wenn seine Schwester mitspielt?«
»Ist dem doch egal.«
»Findet Marvin Theater denn cool?«
»Sicher«, sagte Katie so laut, als wollte sie die halbe Nachbarschaft überzeugen.
Pilar verabschiedete sich und trat hinaus auf die Kokosmatte. Die Socke im Strauch hatte weiße Tupfen bekommen, die Straße bedeckte eine dünne Schneeschicht, die von wenigen schwarzen Linien durchzogen war. Pilar fiel auf, dass sie leicht gebeugt ging, als läge die Trauer wie ein schwerer Mantel auf ihren Schultern. Das war nicht mehr ihre Katie. Das Band war gekappt. Mehr als sieben Jahre hatte es gehalten. Bei ihrem Eintritt in die Gruppe war Katie nicht in der Lage gewesen, auf der Bühne einen einzigen verständlichen Satz zu sprechen. Sie verschluckte Silben und ganze Wörter, blickte zu Boden und hielt die Hand vor den Mund, wenn sie etwas herausnuschelte. Meistens wusste sie nicht, was dran war und worum es ging. Doch Katie blieb. Sie wollte auf die Bühne, sie wollte gesehen werden. Pilar mochte die Herausforderung und gab sich unendliche Mühe, mit dem Ergebnis, dass Katie von der Karrierefrau bis zur Skandalnudel eine ganze Reihe Frauenrollen perfekt zu mimen verstand.
Als Nächsten wollte Pilar Kevin aufsuchen. Er hatte ihr das Messer gebracht, als sie die Pappen schneiden musste, er konnte nicht behaupten, dass er ihren Kasten nie gesehen hätte. Kevin wohnte nur ein paar Häuser weiter, in einem Eckhaus mit kleinem Garten. Hier war alles ordentlich, alles sauber, und an der Tür hing ein pausbäckiger Nikolaus aus Plastik. »Nessel« stand auf dem Klingelschild. Das war der Name der Mutter, erinnerte sich Pilar. Kevin und Vivian hießen mit Nachnamen Obbermeyer wie ihr Vater. Der war vor Kurzem ausgezogen und lebte mit seiner neuen Frau und dem gemeinsamen Säugling nur eine Straße weiter. Das stellte sich Pilar nicht einfach vor für Frau Nessel.
Der Nikolaus baumelte heftig hin und her. Die Tür öffnete sich. Kevins Mutter beäugte Pilar durch die übergroßen Gläser ihrer Brille und ließ sie im Feucht-Kalten stehen. Sie rief mit deutlichem Widerwillen ihren Sohn, der daraufhin die Stufen herunterstampfte, als befände er sich auf einem Protestmarsch.
»Endlich kann er mehr für die Schule tun.« Während sie sprach, schaute Frau Nessel an Pilar vorbei zur Straße. »Er war so schlecht geworden, weil er
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