Kottenforst
ich ja gehen.« Katie stand auf. »Ich wollte dir nur einen Tipp geben.«
»Ich lass mich nicht gern verschaukeln«, erwiderte Pilar.
Katie blickte vor sich auf den Teppich. Ihre Augen schienen den Linien des Musters zu folgen. Sie ist ziemlich durcheinander, stellte Pilar fest. Warum ist sie gekommen? Will sie verhindern, dass ich der Sache mit dem Kasten noch weiter nachgehe? Oder hat Marvin etwas damit zu tun? Hat er seine Schwester geschickt, um mich auf falsche Fährten zu bringen? Offenbar weiß Katie etwas, vielleicht braucht sie nur den richtigen Anstoß, um damit herauszurücken. Aber ich schaffe das nicht. Heute nicht.
»Mach dir keine Gedanken um den gelben Kasten, Katie«, sagte Pilar ein wenig boshaft. »Er ist wieder da. Wie auch immer er auf meine Terrasse geraten ist und wer auch immer die tote Katze hinein…« Sie fühlte Tränen in ihre Augen schießen.
Katie hob den Kopf und starrte Pilar aus weit aufgerissenen Augen an. »Wer hat den da …« Sie biss sich auf ihre Bonbonlippen, wandte sich ruckartig um und marschierte durch den kleinen Flur in Richtung Haustür. Die Zierkettchen an den roten Stiefeln klickerten bei jedem Schritt.
»War es einer von euch?«, rief Pilar ihr nach. »Der Mörder von Frau Holzbeisser?«
Die Haustür flog zu. Aha, dachte Pilar, sie hat nicht gewusst, dass der Kasten hier gelandet ist.
Aus dem Garten waren Spatenstiche zu hören. Fünf Jahre war der Kater alt geworden. Pilar sah ihn noch vor sich, wie er neben seinem gestreiften Bruder blind und jämmerlich im Sand gelegen hatte, die Hinterbeinchen flach am Boden, mit den Vorderpfoten bemüht, von dort wegzukommen, wo Menschen die beiden hingeworfen hatten, damit sie starben. Sie erinnerte sich, wie sie die winzigen Kätzchen in ihrer Handtasche nach Deutschland geschafft hatte, drei Tage Autofahrt mit vielen Stopps zum Füttern, wie die kleinen Kerle das Haus eroberten, über Sofa und Sessel tobten, wie sie wuchsen und im Garten herumtollten. Der mühsam gehaltene Damm der Beherrschung gab nach, und Pilars Tränen flossen.
Sie wankte zum Sofa. Zum Heulen musste man liegen. Aber daraus wurde nichts – die »Marcha Real« schallte durchs Wohnzimmer. War das Telefon immer so laut gewesen?
»Tierarztpraxis Dr. Wummel«, sagte eine Frau, die sehr ernst klang. Sie machte eine Pause.
Nein, dachte Pilar, das halte ich nicht aus. Sie haben ihn nicht retten können. Beide Kater tot. Am selben Tag geboren, am selben Tag gestorben.
»Sie können Goethe jetzt abholen. Es geht ihm gut.«
Pilar atmete aus, zerrte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche, wischte sich die Tränen ab und schnäuzte sich die Nase. Es half nichts, man musste für die Lebenden da sein. Und die Toten rächen, dachte sie unwillkürlich. Wo hatte sie das her? Aus den isländischen Sagas, über die sie im Sommer einen Vortrag in ihrer Buchhandlung gehalten hatte?
Von der Terrassentür aus sah sie durch die Zweige des Ranunkelbuschs, wie Freddy sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischte. Sie rief ihm zu, sie müsse für eine halbe Stunde fort, er solle mit der Beerdigung warten, und ging zum Auto. Nein, sie ging nicht, sie schritt, die »Marcha Real« noch in den Ohren. Wie eine Rachegöttin schritt sie, den Kopf voll schwerer, zorniger Gedanken.
AM SECHSTEN TAG DANACH
Liebe Nadja,
nach dieser schlaflosen Nacht, in der ich mir pausenlos ausgemalt hatte, wie das Rendezvous im Dunkeln vonstattenging, ist der Tag nun ganz anders verlaufen, als ich erwartet hatte.
Stell dir vor: Eine ihrer Katzen ist unters Auto geraten. Nachdem ich erfahren hatte, dass sie mit dem verletzten Tier einen Arzt aufsuchen wollte, nahm ich an, dass sie lange fort bleiben würde, und nutzte die Gelegenheit, mich auf dem Grundstück umzusehen – ohne bestimmten Plan und mit geringem Risiko, da der Garten dank der wuchernden immergrünen Büsche kaum einsehbar ist. Auf der rechten Seite gibt es statt Nachbarn nur Rückseiten von Garagen, dort bin ich entlanggegangen, Schritt für Schritt horchend, ob sich ihr Auto nähert. Auch sonst schien niemand zu Hause zu sein, Mann und Söhne kommen immer sehr spät. Nadja, ich hätte es nicht getan, wenn das Rendezvous nicht gewesen wäre!
Als ich die Terrasse erreichte, saß dort ein schwarzes Biest. Es rannte nicht weg wie die meisten Katzen, sondern glotzte mich aus giftgrünen Augen an, als wollte es mich verhexen. Das musste ihre zweite Katze sein, von der die Nachbarn sagen, dass sie die Beete verschmutzt und
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