Kottenforst
schlechte Tochter. So wie sie eine schlechte Mutter war, denn ihre Söhne krochen, wie sie hörte, erst jetzt aus den Betten, und es war fast ein Uhr. Anderer Leute Kinder hatten schon Schnee geschippt, das Altglas weggebracht und Brötchen gekauft, aber Damian und Lukas sanken in narkoseähnlichen Tiefschlaf, sobald man sie am Samstagmorgen weckte und um Mithilfe bat, was nur bedeuten konnte, dass sie bei der Erziehung versagt hatte. Wie sie überhaupt in allem versagte, und deshalb würde sie jetzt reiten gehen. Das alte Pferd stellte keine Ansprüche, machte niemandem Vorwürfe und war erfreulich schweigsam.
Pilar zog ihre Reithose an und holte die dazugehörigen Stiefel aus dem Schuhregal. Der arme Goethe würde so lange ohne sie auskommen müssen. Sie legte gerade ihre Einlegesohlen zurecht, als ihr ein miefiger Geruch in die Nase stieg. Er kam nicht aus den Reitstiefeln, sondern rührte von der Gestalt her, die barfüßig und nur mit Boxershorts bekleidet neben ihr auftauchte.
»Wo is Kaffee?«
»Keiner mehr da.«
»Wieso nicht?«
»Lukas, sag mal …«
»Nee, keine Fragen am frühen Morgen.«
»Könntest du dir vorstellen, dass …« Pilar sprach es nicht aus. Sie zog die Hose über den Stiefelschäften glatt, als wäre das eine Tätigkeit, die höchste Konzentration erforderte. Sie wollte lieber nicht fragen, ob er es für möglich hielt, dass jemand in seinem Alter den Mord begangen hatte, ein Mitschüler oder ein ehemaliger Schüler. Auch die Waldclique oder die Theatergruppe wollte sie in diesem Zusammenhang lieber nicht erwähnen. Womöglich fasste er die Frage als Angriff auf die gesamte Altersgruppe auf und als erneuten Beweis für das Spießertum seiner Eltern.
Lukas sah ihr forschend ins Gesicht. Der Blick aus seinen braunen Augen wirkte erstaunlich wach. »Denkst du über den Mord nach?«
»Och, im Moment nicht so.« Pilar zuckte lässig mit den Schultern.
»Ich hätte wetten können, dass du ganz heiß drauf bist, den Mörder zu entlarven.«
»Ach, warum denn …«, murmelte Pilar und nahm ihre Reitjacke vom Haken.
»Ich hab schon überlegt, ob du weißt, dass bis auf ein paar Schleimer keiner aus meiner Stufe die Holzbeisser gemocht hat.«
Pilar hielt inne, einen Arm bereits im Jackenärmel. »Wieso nicht?«
»Die hat jeden verachtet, der in ihren Fächern Probleme hatte. Für sie waren das Menschen zweiter Klasse. Wenn man mit Interpretationen, Kommas oder Konjunktiv nicht klarkam, war man bei der unten durch. Wenn man zu klassischer Musik keinen Draht hatte oder Tonarten mit fünf Vorzeichen nicht kapierte, hat sie einen verhöhnt.« Lukas nahm das T-Shirt, das er in der Nacht auf der Truhe abgelegt hatte, und schlug es durch die Luft. Ein Ascheregen ging auf den Teppich nieder, begleitet von einem Duftgemisch aus Bier und Zigarettenrauch. »Und natürlich hat es Sechsen gehagelt. Manche haben sie gehasst.«
Pilar schob den zweiten Arm durch den Ärmel und hakte den Reißverschluss ein. »Die Lehrer müssen halt Noten geben.«
»Soll welche geben, die einem helfen, noch was auf die Reihe zu kriegen.« Sein Kopf verschwand im T-Shirt und tauchte wieder auf. »Aber die Holzbeisser hat erklärt, sie will sich nicht mit Doofen abgeben, sonst hätte sie sich für die Sonderschule entschieden und nicht fürs Gymnasium.«
»Kannst du dir Schüler vorstellen, die den Tod der Frau Holzbeisser geplant haben?«, wagte sich Pilar weiter vor. »Würde einer so weit gehen?«
»Wenn man keinen Bock hat, pappen zu bleiben oder die Schule zu wechseln … Oder wenn die Eltern einen fertigmachen … Keine Ahnung.«
Lukas gähnte mit weit geöffnetem Mund, sodass Pilar feststellen konnte, dass endlich alle vier Weisheitszähne vorhanden waren. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und griff nach dem Autoschlüssel, der auf der Kommode bereitlag.
»Ich hätte bei der auch eine Sechs bekommen.«
Pilar fuhr herum. »Du? Wieso weiß ich davon nichts?«
»Ich bin volljährig, Mutter.« Er grinste. »Aber wir haben jetzt den Schmidt in Deutsch. Bei dem geht alles in Ordnung. Der mag mich.«
Pilar fiel der Schlüssel aus der Hand. Lukas bückte sich und hob ihn auf.
»Lukas. Ich wusste nicht, dass es so schlimm um dich steht.«
»Gestanden hat«, korrigierte er und hielt ihr die Tür auf.
Pilar trat nach draußen. Was für einen Geheimniskrämer hatte sie da großgezogen! Da saß man oft stundenlang zusammen und quatschte mit ihm über Gott und die Welt, über Politik und soziale
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