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Kottenforst

Kottenforst

Titel: Kottenforst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Thiesmeyer
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sagen.
    »Was erzählen Sie mir da?«, fuhr der Mann sie an.
    Sie erkannte ihn: die Figur, die Kopfform, die Stimme. Er war der Mann, dem sie nachts im Gemeindehaus begegnet war. Die Tür schloss sich, bevor Pilar eine Rechtfertigung finden konnte. Warum hatte sie nur auf die Fliesen und die Fußleiste gestarrt und losgeschwatzt, ohne den Mann vorher gründlich in Augenschein zu nehmen? Sie drehte sich zur Straße um, geschockt von ihrem eigenen Versagen. Die Plastikhüllen der Rosenstöcke knisterten im Wind, als wollten sie ihr Missfallen ausdrücken.
    In ihrem Rücken wurde die Haustür wieder geöffnet, gefolgt von einem Räuspern.
    »Was hat Sie zu dieser schauspielerischen Höchstleistung veranlasst?« Er stand in der offenen Tür, die Arme vor der Brust verschränkt. Nebenan fuhr der Mann mit den Sprudelkästen davon.
    »Entschuldigen Sie …«, brachte sie hervor.
    »Kommen Sie rein.« Er wies mit einer ungeduldigen Kopfbewegung über seine Schulter.
    Pilar, die schon den halben Klinkerweg hinter sich hatte, kehrte um.
    »Möchten Sie ablegen?« Es klang wie eine Drohung.
    Sie schüttelte den Kopf, während sie die Schuhe auf der Fußmatte gründlicher abstreifte, als nötig gewesen wäre, um den wenigen Schnee loszuwerden.
    Furcht stieg in ihr auf, Furcht, dass sie diesen Schritt bereuen könnte. Warum ließ sie sich darauf ein? Was für Geheimnisse, von denen man besser nichts wusste, verbargen sich hier? Der Ehemann konnte der Mörder sein, er konnte mehr Gründe haben als jeder andere, und seinen auffälligen Schritt konnte er am Tatabend irgendwie gedämpft haben. Musste sie wirklich wissen, was hier nicht stimmte? Ich muss nach Hause, mein Mann wartet, wäre eine brauchbare Ausrede, um sich davonzumachen. Doch sie rieb weiter die Schuhsohlen über die Matte, blickte durch die Tür, die er öffnete, und glitt über die Schwelle, als ob jemand sie an einer Schnur zöge.
    In dem geräumigen Wohnzimmer waren nicht nur die Fenster riesig, sondern auch die cremefarbenen Sessel, die Zimmerpalmen, die chinesischen Bodenvasen, das abstrakte Gemälde über dem Sofa und die Bücherregale, die eine ganze Wand einnahmen und bis zur Decke reichten. Dagegen wirkte ihr eigenes Zuhause mit den Kiefernmöbeln von IKEA und der Balkendecke aus Fichtenholz wie eine nordische Blockhütte. Auch der weiße Flügel, der vor den Fenstern zum Garten stand, schien größer und erlesener als alle Flügel, die sie je gesehen hatte. Sie setzte sich in den angebotenen Sessel und lockerte den Schal um ihren Hals, schaffte es aber nicht, ihm ins Gesicht zu sehen, sondern blickte nur auf seine Füße. Er trug Hausschuhe aus weinrotem Leder.
    »Das ist etwas, was wir gemeinsam haben«, sagte er.
    »Was?«
    »Sie wollen etwas herausbekommen, und ich will es auch. Wer war das? Und weshalb?«
    Ihr Blick wanderte seine Hosenbeine aus braunem Cord hinauf über die schwarzen und braunen Karos seines Flanellhemds zu einem glatt rasierten Doppelkinn, fleischigen Wangen, kleinen Augen, die gerötet aussahen, und einer breiten Stirn unter zurückgekämmtem braunem Haar, das an den Seiten silbern schimmerte.
    »Warum haben Sie Ihre Frau an dem Abend nicht begleitet?«
    Er verzog das Gesicht zu einer faltigen Grimasse, die sie an den Neptun eines alten Steinbrunnens erinnerte.
    »Ich muss gestehen, Frau …«
    »Álvarez-Scholz.«
    »… dass mich Amateurtheater nicht sonderlich interessiert. Meine Frau ist aus beruflichen Gründen dorthin gegangen und wollte das mit einem Besuch bei ihrer Tante verbinden, die sich beklagt hatte, dass sie so selten käme. Ich hatte mich auf drei Stunden ungestörten Lesens gefreut.«
    Wieder die Grimasse. Vielleicht zeigte sie nur, wie stark er litt, doch Pilar kam sie ein wenig gewollt vor, was auch daran liegen mochte, dass der Ausdruck von Trauer nicht zu seinen Gesichtszügen passte, die eher Lebenslust und Genuss ausstrahlten. Wie schwer war es doch, die Mimik eines Menschen zu deuten! Seine Gefühle konnten echt oder gespielt sein, sie hätte es nicht unterscheiden können.
    »Sie ahnen nicht, wie sehr ich es bereue, nicht mitgekommen zu sein, vielleicht hätte ich die schreckliche Tat verhindern können. Wie es passiert?«
    »Ich weiß wenig darüber, ich war zu weit weg«, erwiderte Pilar.
    »Wer bringt so etwas fertig? Ein wütender Schüler? Was meinen Sie?«
    Pilar zuckte nur mit den Schultern. Sie hat Mühe zu verschleiern, dass sie im Moment vor allem den Ehemann verdächtigte.
    Er seufzte. »Meine

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