Kottenforst
offenbar befürchtete, die Dosen würden später auf dem Boden landen. Bald kamen andere und hielten neugierig ihre Nase in den Saal, während Pilar mit dem Besen die Pappschnitzel zusammenkehrte – oder nein, das hatte sie nur vorgehabt, Rita hatte gefegt, sie selbst hatte etwas anderes gemacht. So ein löchriges Gedächtnis war ja grauenvoll! Aber nein, grauenvoll war dieser Mord, und es war völlig daneben, dass sie darauf aus war, möglichst schnell ihr Gewissen zu entlasten.
Einer der Polizisten kam nach vorne, genau auf Pilar zu. Die Angst des Hasen vor dem Jäger, sie spürte sie scharf und deutlich. Wie lächerlich! Warum fühlte sie sich schuldig? Rita hätte das herumliegende Messer doch auch bemerken können! Aber in Gegenwart von Polizei befiel Pilar stets Unbehagen, seit sie als Vierzehnjährige aus dem ersten Stock ihres Elternhauses in der Südstadt einen Becher Wasser auf die Glatze eines Passanten gegossen hatte. Strafbare Körperverletzung. Sie hatte geglaubt, sie käme ins Gefängnis.
»Bleiben Sie bitte an Ihren Plätzen, meine Damen und Herren«, hörte sie neben sich die Stimme des Polizisten. »Wir bitten um Verständnis, dass niemand das Gebäude verlassen darf.«
Weitere Beamte eilten zur Bühne. Pilar sah, wie sie den Paravent ihrer Großmutter und die seitliche Kulissenwand mit dem aufgemalten Rathaus durch den Seitengang nach hinten trugen. Dieter stand neben dem entblößten Techniktisch und schüttelte noch immer seinen Kopf. In den Stuhlreihen hatten sich die meisten Leute wieder hingesetzt, einige vergruben das Gesicht in den Händen. Die Menschen, die in der Nähe des Rettungsdienstes standen, schienen jeden Blick zur Seite zu vermeiden. Sie wichen zurück, als sich die Polizisten mit dem Paravent und der Stellwand näherten und beides als Sichtschutz aufbauten. Das aufgemalte Rathaus hatte Risse bekommen. Das Dach hing herunter wie eine Fahne auf Halbmast.
Nun fiel es Pilar ein: Holzbeisser, so hieß die Deutschlehrerin ihres Sohnes Lukas. Natürlich, das war die Frau mit den auffallenden Haarwellen, die hinten im Saal am Rand gestanden hatte. Sie war dafür bekannt, im Gymnasium aufwendige Singspiele und Jugendopern zu inszenieren. Keine Musicals, Frau Holzbeisser bevorzugte Althergebrachtes. Bei einer ihrer letzten Vorstellungen hatte Lukas die Worte »Ist ja saublöd!« durch die Aula geschmettert. Kurz darauf, es war auf dem Platz vorm Bäcker gewesen, hatte die Lehrerin ihr mit scharfer Stimme »schlimmstes elterliches Versagen« vorgeworfen, worauf Pilar rot gesehen und sie angebrüllt hatte, was sicher zwei Dutzend Leuten zu Ohren gekommen war. An der Endhaltestelle gegenüber hatte sich gerade ein Bus geleert.
Durch die Saaltür traten mehrere Männer mittleren Alters, teils in Mänteln, teils in Anoraks, und gingen auf den Sichtschutz zu.
»Kriminalpolizei«, stellte eine Bassstimme in Pilars Nähe fest. »Mordkommission. So sehen die aus. Immer in Zivil.«
»Die haben sich ihren Samstagabend auch anders vorgestellt«, meinte eine Frau.
Nach einer Weile verteilten sich die Kriminalbeamten im hinteren Teil des Saals und sprachen die Zuschauer an.
»Das wird dauern, bis wir dran sind«, klagte die Bassstimme.
»Frau Álvarez-Scholz?«
Pilar zuckte zusammen. Vor ihr stand eine schmale Frau mit hellen Augen unter dünnen braunen Ponyfransen. Sie trug eine kurze Jacke und Röhrenjeans, die in Stiefeln steckten. Pilar hatte nur auf die männlichen Beamten geachtet und nicht bemerkt, dass eine Frau dabei war.
»Sind Sie die Leiterin der Theatergruppe?«
»Ja.« In Pilars Ohren klang es wie ein Schuldbekenntnis.
»Mein Name ist Sabine Ahrbrück, Kriminalhauptkommissarin. Das hier«, sie deutete auf einen breitschultrigen Hünen, der neben ihr stand, »ist mein Kollege Oberkommissar Möller. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Die klare Stimme der Kommissarin schwang sanft in der rheinischen Satzmelodie, die Pilar so mochte. Doch änderte das nichts an dem Unbehagen, mit dem sie den beiden Beamten folgte. Sie kam sich vor wie abgeführt. Die Leute, an denen sie vorbeigingen, kannte sie zum Teil, aber niemand sah sie an. Eine Frau mit grasgrünem Halstuch und flammend rotem Haar wich ihrem Blick aus. In der Zuschauermenge hatte Pilar sie nicht bewusst wahrgenommen, vielleicht wegen der ungewohnten Haarfarbe – das letzte Mal war sie weißblond gewesen: Anja Dreisam, die in ihrer Nachbarschaft wohnte und gern die Aufmerksamkeit mit krassen Farben auf sich
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