Kottenforst
hingelegt zu haben, Lukas ihn aber nicht gefunden hatte? Konnte es sein, dass eine fremde Person ihn an sich genommen hatte, bevor Lukas Samstagnacht nach Hause kam? Von wo aus hatte Lukas angerufen wegen des Schlüssels? Hatte jemand mitgehört, oder hatte Lukas in Bierlaune alles ausgeplaudert? In der Kneipe, im Nachtbus, auf der Straße?
Ein dumpferer Laut. Näher, deutlicher. In dem kurzen Flur zwischen Diele und Schlafzimmer war irgendwo jemand angestoßen. Derjenige, der den Schlüssel entwendet hatte. Ein Einbrecher auf der Suche nach Wertvollem oder der Kerl, der für Astis Sturz verantwortlich war. Womöglich hatte er in der Küche den Messerblock entdeckt, den sie in die Mülltonne geworfen hatte, wo Richy ihn gefunden und wieder herausgeholt hatte. Wenn es der Mörder vom Theaterabend war, besaß er Übung mit solchen Messern. Mit dem längsten stand er nun vor ihrer Zimmertür.
Nie zuvor hatte Pilar solche Angst gehabt. Nie zuvor hatte ihr Herz so hart und schmerzhaft geschlagen. Nie zuvor hatte sie sich so schutzlos gefühlt, mit ihrem linken Arm, der zu nichts zu gebrauchen war, mit dieser Schulter, die sie bei jeder Bewegung in ein Häufchen Elend verwandelte.
Wieder war etwas zu hören. Das leise Klicken, das sie aus den Nächten kannte, in denen Richy bis zwei Uhr gearbeitet und sich bemüht hatte, die Tür zu öffnen, ohne sie zu wecken. Das zweite Klicken, das entstand, wenn man die Klinke in die normale Position zurückführte und vorsichtig losließ. Jemand war im Zimmer. Vier, fünf Meter von ihr entfernt.
Pilar saß auf der Bettkante. Sie starrte in die Dunkelheit. Ihr Herz schlug, als wollte es den Brustkorb sprengen und ohne sie fliehen. Schreien war zwecklos, das Haus stand frei, die Nachbarn würden sie nicht hören. Wo war das Telefon? Für die 110 konnte die Zeit reichen. Sie tastete unter Richards Decke und zog die Hand sogleich zurück. Ohne Strom war mit dem Telefon nichts anzufangen. Sie roch Männerparfum. Eine Art Lederduft, vermischt mit Schweiß und etwas, das sie an ihre Theaterkostüme erinnerte. Kellergeruch.
Der Kerl schien stehen zu bleiben. Vermutlich lauschte er genau wie sie. Sicher vermisste er die gleichmäßigen Atemzüge einer Schlafenden. Dieser Mann will nichts klauen, schoss es Pilar durch den Kopf. Er will – mich.
Pilar streckte den rechten Arm nach der Lampe auf dem Nachttisch aus. Sie war aus Metall. Der Schirm hatte scharfe Kanten, der Fuß war schwer, das Kabel lang. Ihre Finger fanden den kühlen Stiel. Ihre Hand schloss sich darum. Ohne jeden Laut hob sie die Lampe an. Bis ein Ruck dem Plan ein Ende setzte. Das Kabel hing zwischen Tisch und Wand fest.
Draußen dröhnte ein Flugzeug am Himmel, fast gleichzeitig ein zweites. Das Doppelgrollen war jede Nacht zu hören. Pilar nutzte es, um von der Bettkante vor den Nachttisch zu gleiten und von dort aus an der Lampe zu ziehen. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Das Kabel rührte sich nicht.
Der fremde Geruch wurde stärker. Pilar vernahm keine Schritte. Sie hörte nur den Kater auf dem Schaffell vor Richards Bett landen.
Die Dunkelheit vor ihr bewegte sich. Ein Luftzug streifte ihr Bein, ein fester Gegenstand traf das Kopfkissen. Pilar war erstarrt, ihr Verstand eingefroren, ihre Muskeln wie verdorrt. Noch ein Luftzug. Es knallte und knirschte im Holz des Bettes, als zerberste es. Eine Axt!
Am Boden polterte es, dicht neben ihrem Fuß. Pilar sprang zur Seite. Der Lampenstiel rutschte in ihrer schweißnassen Hand. Sie fasste nach, zerrte noch einmal. Das Kabel löste sich. Pilar geriet ins Schwanken. Nicht fallen!
Wieder im Gleichgewicht schlug sie mit der Lampe um sich, als wolle sie den Gegner in Scheiben säbeln. Was, wenn er sie ihr entrisse und – sie hielt inne. Irgendwas war anders. Sie spürte die Nähe des fremden Körpers nicht mehr. Die Gestalt war zurückgewichen. Die Finsternis hinter dem Türrahmen hatte sie verschluckt. Schnelle Schritte entfernten sich Richtung Diele, seltsam gedämpft, als trüge der Kerl Filz an den Füßen.
Pilar fasste Mut. Sie zog das Kabel aus der Steckdose und schlich mit der Lampe hinterher. Vor dem Schuhregal verfing sich eine Sandale an ihrem Knöchel und bremste sie. Als sie weiterging, sah sie in der Diele schwachen Lichtschein. Die Haustür fiel ins Schloss. Es war dunkel wie zuvor.
Sie lief in die Küche. Hier hatte sie den Rollladen nicht heruntergezogen, zum einen, weil er klemmte, zum anderen, weil sie Rollläden nur zum Schlafen schätzte.
Weitere Kostenlose Bücher