Kovac & Liska 02 - In aller Unschuld
finden ließ.
Penner bewahrten die seltsamsten Dinge auf. Dieser hier hatte eine ganze Batterie von nahezu leeren Spraydosen, größtenteils Sprühfarbe und Haarspray. Zum Schnüffeln, dachte Dahl. Ein billiger, kurzer Rausch. Dann gab es da noch ein halbes Dutzend einzelner Schuhe, die allesamt den Eindruck machten, als wäre ein Auto darübergefahren. Eine Mülltüte mit ein paar Aludosen und Bier- und Schnapsflaschen. Daher stammte wahrscheinlich das Geld, das mittlerweile in Dahls Tasche steckte und an seinem Gemächt klebte. Einen Hammer, den Dahl nahm und sich mit Schnürsenkeln unter dem Hosenbein an den Unterschenkel band. Und eine Kneifzange.
Dahl nahm sie in die Hand und betrachtete sie, während ihm verschiedene Ideen durch den Kopf gingen. Dann steckte er eine Fingerspitze in die Zange und drückte ein wenig zu.
Er stellte sich vor den Spiegel des Lasters, zog sein T-Shirt hoch und legte es über seine Unterlippe. Anschließend nahm er die Zange und kniff sich in die Lippe, so fest, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Er ging ganz methodisch vor, fing bei dem einen Mundwinkel an und arbeitete sich langsam bis zum anderen vor.
Kurz bevor ihm vor Schmerz schwarz vor Augen wurde, hörte er auf und betrachtete sich noch einmal im Spiegel. Die Lippe war geschwollen, die Kneifzange hatte sich an einigen Stellen tief in die Haut eingegraben, aber er blutete nur an zwei Stellen.
Jetzt war er zufrieden. Das sollte reichen.
In gekrümmter Haltung schlurfte Dahl mit vorstehender Unterlippe auf die Straße, den Einkaufswagen ließ er zurück. Es war ein schöner Tag. Der Himmel wat tiefblau und die Luft warm – na ja, relativ warm für diese Gegend und diese Zeit im Jahr, da der Herbst sich schon dem Ende zuneigte. Trotzdem waren kaum Leute auf der Straße. In diesem Teil der Stadt war samstags nie viel los. Die Büros und Handwerksbetriebe waren geschlossen. Die Leute hatten keinen Grund, hier herumzulaufen.
Aber auch wenn es kaum Passanten gab, fuhren doch die Stadtbusse. Dahl ließ sich zusammengesunken an einer Bushaltestelle nieder und wartete. Vor ihm hatte schon irgendeine andere arme Seele hier gesessen und eine Zeitung zurückgelassen, die über die Bank verstreut lag. Auf der Titelseite war ein Verbrecherfoto von ihm und ein Bild von Carey Moore in Richterrobe auf ihrem Richterstuhl, aufgenommen bei irgendeinem Prozess.
Dahls Herz klopfte ein bisschen schneller. Sein Bild und das seines Engels auf derselben Seite. Seine Mutter hätte gesagt, dass das ein Omen sei. Dahl glaubte eigentlich nicht an solches Zeug, aber in diesem Fall machte er eine Ausnahme. Carey Moore hatte sich seinetwegen zusammenschlagen lassen müssen. Weil sie eine Entscheidung zu seinen Gunsten getroffen hatte. Er glaubte nicht, dass das irgendein anderer Richter getan hätte. In diesem Staat wollte ihn jeder am liebsten tot sehen.
Sie war eine Frau, die zu ihren Überzeugungen stand. Dahl fand diese Vorstellung erregend. Eine starke und leidenschaftliche Frau, die sich nichts und niemandem beugte.
Der Bus fuhr an der Haltestelle vor und stöhnte und ächzte wie ein furzender alter Mann. Dahl faltete die Zeitung zusammen und stieg ein, machte sich auf den Weg zu seiner Heldin.
18
Stan Dempsey verließ die Stadt in dem Ford Taurus, der sich in seinem Besitz befand, seit er 1996 in Detroit vom Fließband gerollt war. Er war gut zu fahren und brachte ihn zuverlässig von einem Ort zum anderen. Er hatte nie einen Grund gesehen, sich einen neuen Wagen anzuschaffen. Er gehörte nicht zu den Leuten, die Statussymbole brauchten.
Nachdem er mittlerweile einen Aktionsplan entworfen hatte, brauchte er nur noch einen Stützpunkt, von dem aus er operieren konnte. Wenn einer seiner Kollegen zu ihm nach Hause kam, um ihn wegen des Überfalls auf Richterin Moore zu befragen – und das würde bestimmt geschehen – , fände er dort das Videoband und würde nach ihm suchen lassen.
Es war ihm wichtig gewesen, dieses Band für sie zurückzulassen. Es war wichtig, dass jeder begriff, wer er war, wofür er stand und wie er zu dem Mann geworden war, den sie heute vor sich sahen. Was dieser Fall ihm angetan hatte. Das Gefühl der Machtlosigkeit, das er hinter seinem Schreibtisch empfand, in der Praxis des Seelenklempners, wo er immer nur an die Wand starrte. Und gleichzeitig zu wissen, dass die Macht, Karl Dahl wegzusperren oder wieder auf die Menschheit loszulassen, ganz und gar in den Händen anderer Leute lag. Leute, die nicht
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