Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
Paz
sehr wohl bewusst. Ich will kein Gerede auf der Arbeit. Und ich will diese Beförderung, die mir mein Chef mit Sicherheit nicht geben wird, wenn Gerüchte die Runde machen. Ich habe fast
vier Jahre auf dem Gelände gearbeitet und die Container überprüft. Zuerst nur als Handlanger an den Wochenenden, dann als Angestellter. Ich kenne das Prozedere in und auswendig,
immer noch. Heute bewege ich meinen Hintern nur noch aus dem Büro, wenn kritische Überprüfungen anstehen. Das hier ist ein kleiner Fisch.
„Kommen Sie mit“, knurre ich den verblüfften Deutschen an, erhebe mich und stopfe die Unterlagen in eine Mappe, damit sie mir draußen nicht davon wehen.
Sobald wir das Büro verlassen haben und mir die salzige Luft des Hafens entgegen schlägt, fühle ich mich besser. Ich liebe diesen Geruch, die Mischung aus Meer, Maschinenöl
und rostigem Stahl. Am liebsten würde ich meine Krawatte lösen und das Jackett loswerden. Es ist Frühling und tagsüber wird es inzwischen richtig warm. Der August war noch
typisch kalt und verregnet, aber bald schon werden die Strände bevölkert sein und ein Bad im kalten Pazifik mehr als willkommen. Eine Windbö pfeift zwischen den Gebäuden
hindurch und zaust mir eine Strähne meines Haares aus dem Zopfgummi. Fahrig streiche ich sie mir aus der Stirn und fühle mich dabei beobachtet.
Als ich von Zuhause fortging, die ängstlichen und mahnenden Worte meiner Mutter in den Ohren, schnitt ich mir die Haare ab. So wenig wie möglich sollte auf die Elendssiedlung
hindeuten, die ich hinter mir ließ. Ich sperrte die Ohren auf, versuchte mir den Singsang der Reichen anzugewöhnen, tilgte den verwaschenen und zuweilen verschrobenen Slang meiner
Jugend. Aber mit den Jahren hat sich mein Erbe zurück geschlichen. Ich ließ die Haare wieder wachsen. Wenn ich getrunken habe oder aufgeregt bin, entschlüpfen mir Worte, die nur die
Armen in den Mund nehmen. Auch der Mate hat seinen Weg in meine Küchenzeile gefunden. Manchmal, nachts, wenn der Hunger zu schlimm wird, wenn mein Körper nach Berührung schreit, nach
Moschus und Hitze, vor allem aber nach einem Lächeln am Morgen, dann stehe ich auf und bereite ihn zu. Langsam und bedächtig, wie ich es gelehrt wurde. Der bittere Geschmack erinnert mich
daran, dass man Hunger ertragen kann, ihn so lange trotzig ignorieren, bis man ihn fast vergisst. Aber der Hunger ist ein hinterhältiges Biest. Irgendwann erwischt er einen unvorbereitet, just
in dem Moment, in dem der Schild aus Bitterkeit fehlt.
Ich werfe Romero im Gehen einen Blick zu. Er hat ein ausgeprägtes Kinn, sein Adamsapfel steht etwas hervor. Er bemerkt, dass ich ihn ansehe, und lächelt mich fragend an.
„Was verschlägt Sie nach Chile?“
Hier draußen kann ich das, Fragen stellen. Neugierig sein. Ich weiß, dass die Jungs am anderen Ende des Geländes arbeiten. Auf dem Weg zu Romeros Container müssen wir in
der Halle vorbei, um einen Bolzenschneider zu besorgen. Ich merke, dass ihn meine Frage erstaunt, nachdem ich ihn im Büro so schroff behandelt habe. Ein paar Schritte lang ist er still, dann
beginnt er zu sprechen.
„Ich wollte immer nach Valparaíso zurück. Als Jugendlicher habe ich einige Jahre hier verbracht, mein Vater hat an der Deutschen Schule unterrichtet.“
„Die auf dem
Cerro Concepción
?“
Er lächelt versonnen. „Genau die. Kennst du die Schule?“
Als ob jemand wie ich eine private Schule von innen gesehen hätte. Ich verbrachte meine Schulzeit mit vierzig anderen Kindern in einem Raum, in dem es nach Abwasser roch.
Ich schüttele stumm den Kopf, kämpfe die aufsteigende Wut hinab. Er kann nichts für unser Bildungssystem. Früher habe ich oft davon geträumt, zu studieren. Ich habe den
Studenten nachgesehen, wenn sie mit Farbe und Schlimmeren beschmiert ohne Schuhe über die Straße liefen, am ersten Tag an ihrer Uni willkommen geheißen von den älteren
Studenten. Verrückt und frei. Die Männer mit langen Haaren und zotteligen Bärten, eine trotzige Reaktion gegen das glatt rasierte Establishment. Meine Mutter konnte gerade das Geld
für eine technische Schule aufbringen. Heute bin ich es, der für Gabriels Schule bezahlt, damit auch mein kleiner Bruder irgendwann da raus kommt. Wenn der Kindskopf die Finger von den
Drogen lässt.
Erst nach einigen Sekunden des Schweigens fällt mir auf, dass Romero mich geduzt hat. Das Wissen beschert mir ein Flattern in der Magengegend. Unkontrolliert.
„Und was haben Sie jetzt
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