Kräuterkunde
könnten diese Modelle wertvolle Denkanstöße geben.
Die großen Pharmakonzerne sind inzwischen schon viel weiter als der durchschnittliche Mediziner. In Anbetracht der schwindenden Effektivität antibiotischer Wunderwaffen, der Risiken und Nebenwirkungen vieler Synthetika und der immens hohen Kosten für die Entwicklung neuer synthetischer Arzneimittel (nur etwa jede zehntausendste untersuchte chemische Verbindung hat eine Chance, am Ende zu einem Medikament entwickelt zu werden (
Pelt 1983:168
), interessieren sich die Konzerne zunehmend wieder für die Heilpflanzen. Sie stellen den Universitätsinstituten beträchtliche Summen zur Ausbildung von ethnobotanischen Feldforschern zur Verfügung. Diese sollen dann in den grünen Ebola-Höllen Afrikas, Südostasiens oder des Amazonasgebiets den
Curanderos, Brujos
, Kräuterweibern und Schamanen nachspionieren.
»Wer weiß, vielleicht wächst das Heilmittel für Krebs, Alzheimers, MS oder Aids noch irgendwo unerkannt im Dschungel.« »Wir müssen die in Jahrtausenden gewachsenen Pflanzenheiltraditionen sichten und durchforsten, ehe die letzten tropischen Wälder und die traditionellen Schamanen, die sich darin auskennen, endgültig verschwunden sind.« So lauten die Parolen. Mit einer Fünf-vor-Zwölf Dringlichkeit werden Ethnobotaniker an renommierten Hochschulen wie Harvard ausgebildet. Der jugendliche Idealismus, die Abenteuerlust der Studenten wird angesprochen: Ethnobotanik ist in. Indiana Jones, mit allen Schutzimpfungen versehen, macht Inventur im Lagerhaus Regenwald. Namenlose Kräuter, Rinden und Wurzeln werden getrocknet, eingefroren oder in Alkohol gelegt, und zur chemischen Analyse an die Labors geschickt. Dank der Entwicklung schneller, vollautomatisierter Testverfahren können inzwischen 150.000 Proben pro Jahr durchs Labor geschleust werden. (
Blech 1996:28
) Die Investition soll sich lohnen. Patentierbare, marktfähige neue Medikamente sind das Ziel. Auch der Aufschwung der Gentechnik hat die Suche nach biologischen Schätzen weltweit auf Hochtouren gebracht.
Der große Vorreiter und Nestor der Ethnobotanik ist Richard Evans Schultes. Über die Jahrzehnte hinweg hat er über 25.000 von den Indianern heilkundlich eingesetzte Pflanzenarten gesammelt und den Labors zukommen lassen. Aber nur höchstens drei Prozent des von Ethnobotanikern sichergestellten Materials enthält, wenn im Labor getestet, nachweisbare Wirkstoffe. Wenn dieser kleine Rest noch weiter durchgesiebt wird, bleibt enttäuschend wenig übrig, was sich eventuell zum serienreifen Medikament eignet.
Wie kann das sein, wo doch die Curanderos und Enyerberos mit derselben Materia Medica befriedigende Resultate erzielen? Eine Antwort ist, daß im grobmaschigen methodologischen Netz der Laborwissenschaft Wesentliches ignoriert wird. Man konzentriert sich bei der Suche auf den essentiellen chemischen Wirkstoff und grenzt alles andere als irrelevant aus: den sozial-kulturell-rituellen Kontext, in dem die Heilpflanze Anwendung findet; die genaue Zeit des Sammelns, Aufbereitens und Anwendens (Tages- und Jahreszeit, Mondphase); die Art der Zubereitung (die ist so wichtig wie beim Kuchenbacken!), die Art der Verabreichung (sinngebendes Ritual, Heilspruch) und schließlich das Verständnis der Pflanze als ein mehrdimensionales Wesen, eines, das sich nicht allein im materialistischen Paradigma erfassen läßt.
»Die Idee, Pflanzen verdankten ihre Wirkung einer einzigen Verbindung, ist schlicht falsch«, sagt der frühere Harvard-Mediziner Andrew Weil. (
Weil 1988:123
) Und Jean-Marie Pelt, Professor für Botanik an der Universität Metz, schreibt: »Die höchste Komplexität einer lebenden Substanz kann man nie ganz erforschen, geschweige denn synthetisieren.« (
Pelt 1983:70
)
Reinkräuter statt Synthetika
Natursubstanzen sind komplizierter als die meisten Laborprodukte. Das Alkaloid Coffein ist eben nicht gleich Kaffee. Allein bei der Analyse des Kaffeearomas wurden mehrere hundert Komponenten gefunden. Das Reinalkaloid Kokain ist nicht identisch mit dem Kokablatt, das die Andenbewohner ohne negative Nebenwirkung tagtäglich kauen, um die Leistungsfähigkeit zu steigern und das Hungergefühl zu dämpfen.
Die reinen, raffinierten Auszüge der Pflanzen erweisen sich als viel toxischer als ihre botanischen Ursprünge. Die Gefahr unerwünschter, unvorhersehbarer Nebenwirkungen ist größer bei den Auszügen, und sie begünstigen den Mißbrauch. Davon zeugen die rund 800.000 Medikamentensüchtigen
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