Kräuterkunde
Nur die Hunde blieben der Versammlung fern, sie mochten die Menschen, halfen ihnen beim Jagen und bekamen dafür Knochen und Kot zu fressen und im Winter manchmal einen warmen Platz zum Schlafen.
Die Tiere drängten darauf, die Menschen zu strafen. Da aber keiner von ihnen mit Pfeil und Bogen oder mit dem Kriegsbeil umzugehen wußte, entschieden sie sich für die Zauberei. Die Hirsche wollten den Jägern, die sich für das erlegte Wild nicht bedankten, Rheuma in die Glieder zaubern. Die Schlangen und Lurche entschieden sich, den Menschen schreckliche Alpträume zu schicken. Die Vögel wollten sie in den Wahnsinn treiben. Der Specht wollte den Frevlern pochende Kopfschmerzen schicken. Und die Käfer und Insekten, die am meisten gelitten hatten, dachten sich dermaßen schreckliche Seuchen aus, daß die Menschheit ganz von der Erde verschwinden würde. Damit waren aber die anderen Ratsmitglieder nicht einverstanden, also mußten die Insekten, deren Anführer ein Madenwurm war, diesen Entschluß zurücknehmen.
Zum Glück waren die Pflanzen den Menschen wohlgesinnt. Sie freuten sich, wenn diese ihre Blüten bewunderten, wenn ihnen die saftigen Beeren schmeckten und wenn sie für die Bäume schöne Lieder sangen. So kamen sie überein, den Menschen zu helfen, sie würden ihnen Heilmittel gegen die Krankheiten geben. Nur mußten die Menschen zu ihnen kommen und sie danach befragen. Sie mußten ihre Medizinleute, die mit den Pflanzen reden können, zu ihnen schicken, wenn sie ihrer Hilfe bedurften.
Gebt den Ärzten
die Kräuterkunde
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Zitronenmelisse
(Melissa officinalis)
Ein mit mir befreundeter Internist und Kardiologe ließ sich ein neues Praxisschild anbringen. »Naturheilverfahren« stand darauf zu lesen.
»Nanu«, fragte ich erstaunt, »das sieht doch gar nicht nach dir aus. Was machst du denn für Naturheilverfahren?«
Er zeigte mir sein neues Bio-nukleo-elektro-energetisches Feed-back-System, einen absurden Apparat, den nur ein Rube Goldberg * hätte erfinden können. Das Wundergerät würde diverse körpereigene Energien amplifizieren, Meridiane stimulieren, ja fast die Toten wiederauferstehen lassen.
»Kommt mir eher wie Hokuspokus vor«, war alles, was ich dazu sagen konnte. »Das ist doch alles andere als wissenschaftlich vertretbar!«
»Der Ansicht bin ich eigentlich auch, aber die Patienten wollen so etwas, sie würden mir sonst weglaufen. Und wenn sie positiv auf solche Placebos reagieren, ist es doch in Ordnung!«
Ich fragte meinen Freund, warum er nicht mit Heilkräutern arbeite. Schließlich sind sie die ältesten und universalsten Heilmittel der Menschheit, und trotz des massiven Drucks der transnationalen Pharmakonzerne greifen noch immer gut zwei Drittel der Menschheit auf Heilpflanzen zurück, um den Krankheiten vorzubeugen, sie zu lindern oder ganz auszuheilen.
»Ich glaube einfach nicht an die Wirksamkeit pflanzlicher Mittel«, wies er mich entschieden zurück, »die vermeintliche Heilwirkung der meisten Kräuter beruht auf Einbildung, auf Suggestion. Objektiv gesehen ist da meistens keine oder kaum eine Wirkung vorhanden.«
»Wie kannst du das behaupten? Noch immer stammen fast 60 Prozent der Arzneien von Pflanzen oder sind synthetische Varianten von Molekülkomplexen, die ursprünglich in Pflanzen gefunden wurden.«
»Nun gut«, gab er zu, »aber dabei handelt es sich nicht um Wurzelkram, das irgendein Kräuterweiblein im Mondschein sammelt, sondern um standardisierte, gesäuberte Auszüge bestimmter Substanzen, deren Wirksamkeit in klinischen Experimenten eindeutig nachgewiesen wurde. Da solche Auszüge oder molekulare Nachbildungen genaustens dosiert werden können, ist ein Optimum an Sicherheit für den Patienten gewährleistet.«
Nun, was mein Freund da sagte, ist eine jedem Schulkind und jedem Zeitungsleser geläufige Litanei. Kräuterkunde ist altmodischer Aberglaube, ein Fall für Folkloristen, aber keine moderne Medizin. Bestenfalls sind die Kräuter Behälter für chemische Wirkstoffe, bei denen es sich um Abfallstoffe des sekundären Stoffwechsels handelt. Da Pflanzen keine Nieren und Harnleiter oder sonstige Ausscheidungsorgane haben – so die gegenwärtige Theorie –, schließen sie diese toxischen Nebenprodukte in Sonderzellen und Vakuolen ein. Zufällig können die Pflanzen ihre Feinde, die Insekten und Pflanzenfresser, damit vergiften oder sich wenigstens vom Leibe halten und gegebenenfalls Bienen und Schmetterlinge zu Bestäubungszwecken anlocken. Dadurch
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