Kräuterkunde
Erde weilenden Seelen ins Licht des Diesseits entläßt. Im zweiten Fall sind es Flugsalbenkräuter, mit deren Hilfe die als
Sejdkoner
bekannten Schamaninnen die jenseitigen Elfen- und Totengefilde erkundeten.
Hundspflanzen waren letztlich wertlose, stinkende Kräuter, wie etwa die Hundskamille, der wertlose Hundskerbel oder die giftige Hundsschlehe (Ligustrum).
Derartige Differenzierungen sind wichtig, denn Heilkraut ist nicht gleich Heilkraut. Der große Phytotherapeut Prof. Rudolf Fritz Weiß führt in seinem Lehrbuch der Phytotherapie (1991), eine ähnliche, zeitgemäße Differenzierung der botanischen Heilmittel wieder ein. Er gliederte die Phytotherapeutika in drei Kategorien:
Die moderne medizinische Forschung konzentriert sich vor allem auf die
forte
-Mittel, also jene Drogen mit Substanzen, die sich leicht extrahieren, synthetisieren und standardisieren lassen. Die
mite
-Mittel, als »relativ wirkungslose« Substanzen, kommen heute kaum in Betracht.
Die meisten Heilpflanzen, die die traditionelle Erfahrungsmedizin anwendet, sind jedoch gerade diese
mite
-Phytotherapeutika. Bei akuten Zuständen kommen noch die
media
-Mittel hinzu. Diese sanft wirkenden Drogen entbehren meist den einen einfach zu isolierenden Reinstoff. Dennoch, und das bestätigt die Erfahrung vieler Generationen, sind sie nicht ohne Wirkung! Ihre stoffliche Analyse ist oft äußerst kompliziert. Meistens handeltes sich um einen ganzen Strauß verschiedenster Wirk- und Begleitstoffe, die den Körper
sanft
zu verschiedenen Reaktionen anregen, die innere Ökologie positiv beeinflussen und diverse biologische Synergysmen in Gang setzen.
Zu solchen vielfach genutzten, einfachen Heilpflanzen (Simplicia), die sich wirkstoffanalytisch nicht festlegen lassen, gehören u. a. Erdrauch
(Fumaria)
, ein gutes Mittel bei krampfartigen Beschwerden im Bereich der Gallenblase, der herzstärkende Weißdorn
(Crataegus)
, die krampflösende, beruhigende Passionsblume
(Passiflora)
und die reizmildernden, schweißtreibenden Lindenblüten
(Tilia)
. Auch die Wirkung von populären Heilmitteln wie Baldrian, Roßkastanie, Artischocke, Mistel, Esche, schwarze Johannisbeere, Arnika, Ringelblume und Myrthendorn ist der Laboranalyse noch nicht gänzlich zugänglich. (
Pelt 1983:65
)
Ebenso wie Akupunktur und Moxibustion wurde auch die Wirksamkeit der Ginsengwurzel
(Panax)
von der westlichen Medizin lange in Frage gestellt. Wie kann es auch möglich sein, daß diese sagenumwobene, anthropomorphe Wurzel alle Körperfunktionen anregt, das Blut »reinigt«, die Nerven stärkt und zugleich bei Herzbeschwerden, Kurzatmigkeit, Magen- und Darmbeschwerden, ja sogar bei Krebs hilft? Zudem soll Ginseng noch das Gemüt erheitern, schlechte Ausdünstungen verhindern und zwischenmenschliches Verständnis fördern. Gehört das nicht eher ins Reich fliegender Glücksdrachen und taoistischer Unsterblichkeitselixiere! Wirkstoffanalysen bestätigten zwar ein gutes Dutzend verschiedener schäumender Substanzen (Ginsenoide), die aber keinesfalls für die angeblichen Wunderwirkungen herhalten können. Damit wäre das Problem Ginseng abgehakt, wäre da nicht die seit Jahrtausenden belegte empirische Erfahrung der chinesischen Mediziner!
Mite
-Phytotherapeutika sind also keineswegs ohne Wirkung. Sie wirken langfristig und eignen sich bei den ersten Anzeichen einer Erkrankung zur Prophylaxe (Vorbeugung) und Prävention (Vorsorge). Sie eignen sich auch zur langfristigen Behandlung bei chronischen Leiden, zur kurmäßigen Behandlung und zur Rehabilitation.
Begriffskategorien wie mite-, media- und forte-Phytotherapeutika stellen eine recht brauchbare Gliederung eines fließendes Kontinuums dar. Sie sind keineswegs als absolute, rigide Kategorien zu verstehen.
Das Kontinuum könnte auch so dargestellt werden (
nach Storl 1993:225
):
Wir sehen nebenstehend, daß die sogenannten
forte
-Phytotherapeutika nahtlos einerseits in die
media
-Mittel und andererseits in die Giftpflanzen übergehen. Das griechische Wort
Pharmakon
bedeutet ja auch Heilmittel genauso wie Gift und Zaubermittel.
Am anderen Ende des Kontinuums gehen die
mite
-Phytotherapeutika nahtlos in die Gewürzpflanzen, ja sogar in die Nahrungspflanzen über. Oft ist es nicht möglich, eindeutig zwischen einem Gewürz und einer Heilpflanze zu unterscheiden, etwa beim Fenchel, beim Kümmel oder beim Knoblauch. Hippokrates konnte ohne Widerspruch den Lehrsatz aufstellen: »Laßt eure Heilmittel Nahrungsmittel sein und eure
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