Kraft des Bösen
und beobachtete ihn.
»Scheiße«, sagte Harod nach fast zehn Minuten dieses Spiels. Er verhielt sich, als wäre er enttäuscht - was er in den Nachwirkungen des Adrenalinstoßes in gewisser Weise auch ein wenig war.
Wenn es keine Geheimkammern gab, war das Haus menschenleer. Vier Zimmer dieses Flurs ließen erkennen, daß sie in jüngster Zeit bewohnt gewesen waren - ungemachte Betten, gefüllte Kühlschränke, Wärmplatten, Schreibtische, auf denen noch Papiere verstreut lagen. Ein Zimmer, ein großes Arbeitszimmer mit Bücherschränken, einem alten Ledersofa und einem Kamin, in dem die Asche noch warm war, erweckte in Harod ganz besonders den Eindruck, als hatte er Willi nur um wenige Stunden verpaßt. Vielleicht waren die ungebetenen Besucher mit dem Helikopter an seinem überstürzten Aufbruch schuld. Aber es waren keine Kleidungsstücke dageblieben, auch keine anderen persönlichen Habseligkeiten; wer immer sich hier aufgehalten hatte, war für den Aufbruch gerüstet gewesen. An einem schmalen Fenster in dem riesigen Arbeitszimmer stand ein riesiges Schachbrett auf einem massiven Tisch; die kunstvoll geschnitzten Figuren standen mitten im Spiel. Harod ging zum Schreibtisch und stocherte mit der Automatik in den wenigen Papieren, die noch dort lagen. Der Adrenalinstoß ließ nach, ihm folgten Kurzatmigkeit, zunehmendes Zittern und ein überwältigender Wunsch, anderswo zu sein.
Die verbliebenen Dokumente waren in deutsch. Obwohl Harod die Sprache nicht beherrschte, gewann er den Eindruck, als beträfen sie Nebensächlichkeiten - Grundsteuern, Berichte über Landverpachtungen, Soll und Haben. Er fegte sie vom Schreibtisch, sah in einige leere Schubladen und kam zum Ergebnis, daß es Zeit zum Aufbruch war.
»Tony!«
Maria Chens Tonfall bewirkte, daß er mit der Browning im Anschlag herumwirbelte.
Sie stand vor dem Schachtisch. Harod kam näher und dachte, daß sie etwas durch das hohe, schmale Fenster gesehen hatte, aber sie betrachtete das riesengroße Schachbrett. Harod betrachtete es auch. Nach einer Weile ließ er die Automatik sinken, ging auf ein Knie und flüsterte: »Ach du Scheiße!«
Harod verstand wenig von Schach, hatte es nur ein paarmal als Junge gespielt, aber er sah, daß das Spiel auf dem Brett sich im Anfangsstadium befand. Nur wenige Figuren, zwei schwarze und eine weiße, waren geschlagen und an den Rand des Spielbretts gestellt worden. Harod rutschte auf dem Knie vorwärts, bis seine Augen nur Zentimeter von der ersten Figur entfernt waren.
Das Schachspiel war aus Elfenbein und einer Art Ebenholz handgeschnitzt. Jede Figur war fünfzehn bis zwanzig Zentimeter hoch, bis ins kleinste Detail ziseliert und mußte Willi ein Vermögen gekostet haben. Harod verstand kaum etwas von Schach, aber seine geringen Grundkenntnisse verrieten ihm, daß es sich hier um ein recht unorthodoxes Spiel zu handeln schien. Der Junge, der Harod vor fast dreißig Jahren bei seinem zweiten und letzten Spiel geschlagen hatte, hatte gelacht, als Tony die Dame schon im Anfangsstadium ins Spiel gebracht hatte. Der Junge hatte höhnisch bemerkt, daß nur Amateure die Dame gleich einsetzten. Aber hier waren offensichtlich beide Damen im Spiel. Die weiße Dame stand auf der Mitte des Spielbretts unmittelbar vor einem weißen Bauern. Die schwarze Dame war vom Spielbrett genommen worden und stand einsam und allein am Rand. Harod beugte sich näher hin. Das Ebenholzgesicht war elegant, aristokratisch und trotz sorgfältig ausgeführter Alterslinien noch schön. Harod hatte dieses Gesicht vor fünf Tagen in Washington, D.C., gesehen, als C. Arnold Barent ihm ein Foto der alten Dame zeigte, die in Charleston erschossen worden und so unachtsam gewesen war, ihr makabres Fotoalbum in ihrem Hotelzimmer zurückzulassen. Tony Harod sah Nina Drayton vor sich.
Harod sah hektisch von einem Gesicht auf dem Schachbrett zum nächsten. Die meisten Gesichter kannte er nicht, aber manche wurden so unvermittelt klar wie bei den erschreckenden Zooms, die Harod in einigen seiner Filme verwendet hatte.
Der weiße König war Willi; daran bestand kein Zweifel, auch wenn das Gesicht jünger, die Züge feingeschnittener, das Haar dichter und die Uniform in Deutschland nicht mehr legal waren. Der schwarze König war C. Arnold Barent samt Anzug und allem. Harod erkannte Charles C. Colben im schwarzen Läufer. Der weiße Läufer war sofort als Reverend Jimmy Wayne Sutter zu erkennen. Kepler saß wohlbehalten in der Reihe der schwarzen Bauern, aber
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