Kraft des Bösen
waren Dummköpfe - einer war ein Psychopath -, aber bei den meisten handelte es sich um ziemlich kluge Mensche n. Wenn man eine Alpha-Persönlichkeit in ein geschlossenes System gibt, wird er oder sie immer auf die höchste Sprosse der konkurrenzstärksten Machtleiter klettern. An einem Ort wie diesem ist das eben die hiesige Bande.«
»Was ist eine Alpha-Persönlichkeit?«
Gentry lachte, verstummte aber unvermittelt und griff sich an die Rippen. »Studenten tierischen Verhaltens untersuchen Hackordnung und Gruppendominanz und nennen das oberste Männchen, den obersten Bock oder Wolf oder was auch immer das Alpha-Männchen. Ich wollte nicht sexistisch erscheinen, daher spreche ich von Persönlichkeit. Manchmal glaube ich, Diskriminierung und andere dumme gesellschaftliche Straßensperren bringen eine unangemessene Zahl von AlphaPersönlichkeiten hervor. Vielleicht handelt es sich dabei ja um eine Art von natürlichem Ausleseprozeß, durch den ethnische und kulturelle Gruppen sich einen fairen Platz in einer unfairen Gesellschaft sichern.«
Natalie strich ihm über den Arm unter der Decke. »Weißt du, Rob, für einen guten alten Sheriff vom Lande hast du interessante Gedanken.«
Gentry senkte den Blick. »Aber keine besonders originellen. Saul Laski hat ähnliche Schlußfolgerungen in seinem Buch Die Pathologie der Gewalt gezogen. Er hat sich darüber ausgelassen, wie unterdrückte und häufig unvorstellbare Gesellschaftsformen dazu neigen, unglaubliche Krieger hervorzubringen, wenn das nationale oder kulturelle Überleben davon abhängt - sozusagen spezialisierte Alpha-Persönlichkeiten. Selbst Hitler paßte auf eine kranke, pervertierte Weise in diese Beschreibung.«
Eine Schneeflocke landete auf Natalies Lid. Sie blinzelte sie weg. »Glaubst du, daß Saul noch am Leben ist?«
»Die Logik spricht für das Gegenteil«, sagte Gentry. Er hatte Natalie am Nachmittag, als er erwacht war, während einer langen Wachperiode seine Erlebnisse der letzten Tage erzählt. Jetzt zog er die Decke enger um sich und legte die verbundene Hand auf das gesplitterte Verandageländer. »Dennoch«, sagte er, »glaube ich, daß er noch am Leben ist. Irgendwo.«
»Und jemand hat ihn?«
»Ja. Wenn es ihm nicht gelungen ist, vollkommen unterzutauchen. Aber dann hätte er uns Bescheid gegeben.«
»Wie?« sagte Natalie. »Du und ich, wir haben beide Nachrichten auf deinem Anrufbeantworter hinterlassen, die jemand gelöscht hat. Wie hätte Saul durchkommen können, wenn es uns nicht gelungen ist? Besonders, wenn er sich auf der Flucht befindet.«
»Gute Frage«, sagte Gentry. Natalie erschauerte. Gentry rückte näher zu ihr und nahm sie mit unter die Decke. »Denkst du an gestern?« fragte er.
Sie nickte. Jedesmal, wenn sie sich auch nur ein kleines bißchen sicher fühlte, erinnerte sie sich an das Gefühl von Anthony Harods Bewußtsein in ihrem Kopf, und ihr ganzer Körper erschauerte, als sie an die brutale Vergewaltigung denken mußte. Es war eine brutale Vergewaltigung gewesen.
»Es ist vorbei«, sagte er. »Sie bekommen dich nicht noch einmal.«
»Aber sie sind noch da draußen «, flüsterte Natalie.
»Ja. Was ein weiterer Grund ist, weshalb wir besser nicht versuchen sollten, Philadelphia heute nacht zu verlassen.«
»Und du glaubst immer noch nicht, daß es . Harod . war, der den Bus ... der sie auf uns gehetzt hat?«
»Ich kann es mir nicht vorstellen«, sagte Gentry. »Der Mann war wirklich und wahrhaftig bewußtlos, als wir gegangen sind. Möglicherweise ist er zehn Minuten später wieder zu sich gekommen, aber dann war er bestimmt nicht in der Verfassung, geistige Akrobatik zu machen. Außerdem, hast du nicht gesagt, du hast den Eindruck gehabt, als würde er seine . Voodoo- Gabe . nur bei Frauen anwenden?«
»Ja, aber das war nur ein Gefühl, das ich hatte, als er ... als er vorhatte .«
»Vertrau auf das Gefühl«, sagte Gentry. »Wer immer diese Leute gestern nacht auf uns gehetzt hat, hat auch Männer benützt.«
»Wenn es nicht Anthony Harod war, wer dann?« Inzwischen war es dunkel. Irgendwo in der Stadt heulte eine Sirene. Die Straßenlaterne, die spärlich erleuchteten Fenster, die Spiegelungen der zahllosen Quecksilberdampflampen in der Stadt auf der tiefhängenden Wolkendecke, das alles kam Natalie unwirklich vor, als hätte das Licht in diesen Schluchten schmutziger Backsteine, rostigen Metalls und Dunkelheit nichts zu suchen.
»Ich weiß nicht«, sagte Gentry. »Aber ihr weiß, unsere Aufgabe
Weitere Kostenlose Bücher