Kraft des Bösen
mir nicht richtig vor .«
»Hör zu«, sagte Gentry mit seinem bärbeißigsten Brummeln, »dieser Bursche Marvin da is kein Dummkopf nich. Er wird keine Risiken eingehn.«
»Geh du keine Risiken ein.«
»Nein, Ma’am. Ich muß gehen.« Er zog sie zu einem langen, innigen Kuß an sich, bei dem sie seine Rippen vergaß, als sie die Arme um ihn legte und ihn fest drückte.
Natalie beobachtete vom Fenster im ersten Stock, wie die Gruppe aufbrach. Mit Louis gingen Marvin, Leroy, der große junge Mann namens Calvin, ein verdrossen dreinschauendes älteres Bandenmitglied namens Trout, Zwillinge, die Natalie nicht kannte, und Jackson. Der Exmediziner war aufgetaucht, als die Gruppe gerade aufgebrochen war. Alle waren bewaffnet, abgesehen von Louis, Gentry und Jackson. Calvin und Leroy trugen abgesägte Schrotflinten unter den weiten Mänteln, Trout eine 22er mit langem Lauf und die Zwillinge kleine, billige Pistolen, die Rob >Saturday Night Specials< genannt hatte. Gentry hatte Marvin nach der Ruger gefragt, aber der Bandenchef hatte nur gelacht, die schwere Waffe zu Ende geladen und sie in der Tasche seiner eigenen Armeejacke verstaut. Gentry sah auf und winkte ihr mit der Nikon, als sie gingen.
Natalie setzte sich auf die Matratze in der Ecke und kämpfte gegen den Drang zu weinen. Sie ging im Geiste alle Möglichkeiten und Eventualitäten durch.
Wenn Melanie Fuller tot war, konnten sie vielleicht gehen. Vielleicht. Aber was war mit den Beamten, von denen Rob gesprochen hatte? Und dem Standartenführer?
Und was war mit Anthony Harod? Natalie schmeckte Erbrochenes, wenn sie an diesen kleinen Scheißkerl mit seinen Echsenaugen dachte. Die Erinnerung an Angst und Haß der Frauen, die sie in den wenigen Minuten unter seiner Kontrolle gespürt hatte, drehte ihr den Magen um. Sie wünschte sich, sie hätte ihm das häßliche Gesicht eingetreten, als sie die Möglichkeit dazu gehabt hatte.
Als sie ein Geräusch auf der Treppe hörte, stand sie auf.
Jemand kam ins trübe Licht am Ende der Treppe. Niemand außer ihr hielt sich im ersten Stock auf. Taylor hatte stellvertretend das Sagen, einige Bandenmitglieder waren weggegangen, um andere zu alarmieren, und Natalie hörte Gelächter vom Erdgeschoß. Die Person am Ende der Treppe kam zögernd ins Licht, und Natalie sah kurz eine weiße Hand, ein blasses Gesicht.
Sie sah sich rasch um. Keine Waffen waren oben zurückgelassen worden. Sie lief zum Billardtisch, der hell von einer Hängelampe angestrahlt wurde, hob eine Queue und schwang es leicht, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Sie nahm es in beide Hände und sagte: »Wer ist da?«
»Ich bin es nur.« Bill Woods, der Priester, der angeblich Leiter des Community House war, kam ins Licht. »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«
Natalie entspannte sich, legte das Queue aber nicht weg. »Ich dachte, Sie wären nicht da.«
Der gebrechlich aussehende Mann beugte sich über den Billardtisch und spielte mit der weißen Kugel. »Oh, ich bin den ganzen Nachmittag gekommen und gegangen. Wissen Sie, wohin Marvin und die anderen Jungs unterwegs sind?«
»Nein.«
Woods schüttelte den Kopf und rückte die dicke Brille zurecht. »Schrecklich, welche Diskriminierung und Ausbeutung diese Kinder erleiden müssen. Haben Sie gewußt, daß die Arbeitslosigkeit schwarzer Teenager in dieser Gegend bei neunzig Prozent liegt?«
»Nein«, sagt Natalie. Sie war vor diesem dünnen, eifernden Mann um den Tisch herum zurückgewichen, spürte aber nichts an ihm, außer dem brennenden Wunsch, mit jemandem zu reden.
»O ja«, sagte Woods. »Die Geschäfte und Läden auf der Avenue gehören fast ausschließlich Weißen. Meistens Juden. Sie wohnen nicht mehr hier, führen aber nach wie vor die verbliebenen Geschäfte. Was hier nichts Neues ist.«
»Was meinen Sie damit?« sagte Natalie. Sie fragte sich, ob Rob und die Gruppe schon dort sein mochten. Wenn die tote Frau nicht Melanie Fuller war, was würde Rob machen?
»Die Juden, meine ich«, sagte Woods. Er setzte sich auf den Rand des Billardtischs und zupfte das Hosenbein hinunter. Er berührte seinen schmalen Schnurrbart, eine struppige schwarze Linie, die wie eine nervöse Raupe auf seiner Oberlippe aussah. »Es hat eine lange Vorgeschichte, daß die Juden die Unterprivilegierten in Amerikas Großstädten ausbeuten. Sie sind schwarz, Miß Preston. Sie müßten das doch selbst am besten wissen.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, sagte Natalie; im selben Augenblick
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