Kraft des Bösen
aus der Zelle, und halb schob es sie, halb zog es sie zu einer steilen, schmalen Treppe. Natalie konnte gerade noch eine dunkle Küche aus der Kolonialzeit und einen kleinen Salon erkennen, in dem ein Kerosinheizofen in einem winzigen Kamin glühte, bevor sie die Treppe hinaufstolperte. Oben befand sich ein kurzer, dunkler Flur, dann stieß Vincent sie in ein Zimmer, das von Kerzen erhellt wurde.
Natalie sah sich betroffen und fassungslos um. Melanie Fuller lag in Embryonalhaltung zwischen einem Knäuel Decken und Laken auf einem Klappbett. Das Zimmer hatte eine hohe Decke, ein einziges Fenster mit geschlossenem Laden und wurde von mindestens drei Dutzend Kerzen auf Boden, Tischen, Simsen, dem Kaminsims und einem Rechteck um das Bett der alten Dame herum erleuchtet. Hier und da fanden sich verrottete Erinnerungsstücke an längst verstorbene Kinder - ein kaputtes Puppenhaus, eine Wiege mit Metallgitterstäben, die aussah wie der Käfig eines kleinen Tiers, uralte Flickenpuppen und eine beunruhigende, einszwanzig große Puppe eines Jungen, die aussah, als wäre sie lange radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen: Haarbüschel fehlten, waren ausgerissen, die abblätternde Farbe des Gesichts sah wie Lachen subkutaner Blutgerinnsel aus.
Melanie Fuller drehte sich um und sah sie an. »Hören Sie sie?« flüsterte sie.
Natalie drehte den Kopf. Es war kein Laut zu hören, abgesehen von Vincents keuchendem Atem und dem Klopfen ihres eigenen Herzens. Sie sagte nichts.
»Sie sagen, es ist fast Zeit«, zischte die alte Frau. »Ich habe Anne nach Hause geschickt, falls wir das Auto brauchen.«
Natalie sah zur Treppe. Vincent versperrte ihr den Fluchtweg. Sie sah sich auf der Suche nach einer möglichen Waffe im Zimmer um. Die Metallwiege war zu schwer, die Puppe mit ziemlicher Sicherheit zu unhandlich. Wenn sie ein Messer hätte, etwas Scharfes, könnte sie der alten Frau an die Kehle gehen. Was würde das weiße Ungeheuer machen, wenn die Voodoo-Lady starb? Melanie Fuller sah schon tot aus; ihre Haut schien so blau zu sein wie ihr Haar im flackernden Licht, das linke Lid der Dame hing so weit herunter, daß das Auge fast geschlossen war.
»Sagen Sie mir, was Nina will«, flüsterte Melanie Fuller. Ihre Augen zuckten hin und her und suchten Natalies Blick. »Nina, sag mir, was du willst. Ich wollte dich nicht töten, meine Liebste. Kannst du die Stimmen hören, Darling? Sie haben mir gesagt, daß du kommst. Sie erzählen mir vom Feuer und dem Fluß. Ich sollte mich anziehen, Teuerste, aber meine sauberen Kleidungsstücke sind bei Anne, und das ist viel zu weit zu Fuß. Ich muß mich eine Weile ausruhen. Anne bringt sie mit, wenn sie wiederkommt. Du wirst Anne mögen, Nina. Wenn du sie willst, kannst du sie haben.«
Natalie stand keuchend da, während ein seltsames Entsetzen ihr Innerstes erfüllte. Es konnte ihre letzte Chance sein. Sollte sie den Versuch unternehmen, an Vincent vorbeizustürmen, die Treppe hinunterzulaufen und den Ausgang zu suchen? Oder sich auf die alte Frau stürzen? Sie sah Melanie Fuller an. Die Frau roch nach Alter und Babypuder und altem Schweiß. In diesem Augenblick wußte Natalie ohne jeden Zweifel, daß dieses Ding für den Tod ihres Vaters verantwortlich war. Sie erinnerte sich an das letztemal, als sie ihren Vater gesehen hatte - zwei Tage nach Thanksgiving bei der Abschiedsumarmung auf dem Flughafen, sein Aroma von Seife und Tabak, seine traurigen Augen, seinen gütigen Geruch.
Natalie kam zu dem Ergebnis, daß Melanie Fuller sterben mußte. Sie machte sich zum Sprung bereit.
»Ich habe deine Unverschämtheiten satt, Mädchen!« kreischte die alte Frau. »Was hast du hier oben zu suchen? Geh wieder an deine Arbeit. Du weißt, was Papa mit bösen Niggern macht!« Die alte Frau auf dem Bett machte die Augen zu.
Natalie spürte, wie etwas wie eine Axt auf ihren Schädel einschlug. Ihr Verstand brannte lichterloh. Sie wirbelte herum, kippte nach vorn, versuchte das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Nervenzellen versagten, während sie in einem unkontrollierten Tanz herumstolperte. Sie prallte gegen die Wand, prallte noch einmal dagegen und taumelte gegen Vincent. Der Junge legte besudelte, schmutzige Hände auf ihre Brüste. Sein Atem roch wie Aas. Er riß Natalies Bluse vorn auf.
»Nein, nein«, sagte die alte Frau vom Bett. »Mach es unten. Bring den Leichnam zum Haus zurück, wenn du fertig bist.« Die alte Hexe stützte sich auf die Ellbogen auf und sah Natalie mit einem offenen Auge an,
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