Kraft des Bösen
erinnerte sich auf der Stelle wieder, wie sie hinter verkohlten Holzbalken kauerte, wie die Welt nach Asche und Angst roch, während der geduckte Schatten mit der Sense durch die Dunkelheit auf sie zugeschlurft kam. Sie wußte noch, sie war aufgesprungen, hatte einen Backstein geworfen, den sie in der Hand hielt, und versucht, möglichst schnell an der Gestalt vorbeizukommen, die sich hastig umdrehte. Hände hatten sich um ihre Oberarme geschlossen; sie hatte geschrien und wild um sich getreten. Dann ein heftiger Schlag auf den Kopf, ein weiterer Schlag, bei dem ihre Stirn aufplatzte, so daß ihr Blut ins linke Auge floß, dann das Gefühl, hochgehoben und getragen zu werden. Flüchtige Eindrücke von Himmel, Schnee, einer kippenden Straßenlaterne, dann Schwärze.
Sie erwachte in Kälte und einer so undurchdringlichen Dunkelheit, daß sie sich ein paar Minuten gefragt hatte, ob sie blind geworden war. Sie kroch von einem Nest aus Decken auf dem Steinboden und spürte die rauhen Oberflächen von Stein und Holzbalken ihrer Zelle. Die Decke war so hoch, daß sie sie nicht berühren konnte. An den Wänden befanden sich kalte Metallklammern, als wären dort einmal Regale angebracht gewesen. Nach einigen Minuten war es Natalie gelungen, schmale Streifen nicht ganz so schwarzer Dunkelheit am oberen und unteren Rand der Tür zu entdecken, kein Licht als solches, aber eine wahrnehmbare Dunkelheit, die zumindest von einer Andeutung indirekten Lichts erhellt wurde.
Natalie hatte nach den beiden Decken getastet und sich zitternd in einer Ecke verkrochen. Ihr Kopf tat teuflisch weh, Übelkeit und Furcht wirkten zusammen und sorgten dafür, daß sie ständig kurz davor zu sein schien, sich heftig zu übergeben. Ihr ganzes Leben lang hatte Natalie Mut und Besonnenheit bei Notfällen bewundert, hatte sich bemüht, wie ihr Vater zu sein - ruhig und kompetent in Situationen, in denen andere sinnlos stammelten -, aber statt dessen kauerte sie jetzt hoffnungslos in einer Ecke, schlotterte am ganzen Körper und betete zu keinem bestimmten Gott, daß das weiße Ungeheuer nicht zurückkommen würde.
Das Zimmer war kalt, aber nicht von der Kälte unter dem Gefrierpunkt, wie sie draußen herrschte; es war die konstante, klamme Kälte einer Höhle. Natalie hatte keine Ahnung, wo sie sich befinden mochte. Stunden waren vergangen, sie war kurz vor dem Eindösen, zitterte aber immer noch, als Licht unter der Tür flackerte, das Geräusch zahlreicher Riege l, die zurückgeschoben wurden, ertönte, und Melanie Fuller das Zimmer betrat.
Natalie war sicher, daß es sich um Melanie Fuller handelte, obwohl das flackernde Licht einer Kerze, die die alte Dame in der Hand hielt, ihr Gesicht nur von unten beleuchtete und so das bizarre Zerrbild eines Menschen zeigte: Wangen und Augenhöhlen voller Runzeln, ein knotiger Hals, der nur aus Hautlappen zu bestehen schien, Augen gleich Marmor, die aus dunklen Höhlen sahen, das linke Lid hing etwas herab, schütteres blauweißes Haar stand von der fleckigen Kopfhaut ab wie ein Strahlenkranz statischer Elektrizität. Hinter der Erscheinung konnte Natalie die schlanke Gestalt des weißen Ungeheuers erkennen, dem das Haar strähnig, schmutzig und blutverkrustet ins Gesicht hing. Seine abgebrochenen Zähne glänzten gelblich im Licht der Kerze der alten Frau. Seine Hände waren leer, die langen weißen Finger zuckten unwillkürlich, als würde Starkstrom durch seinen Körper fließen.
»Guten Abend, meine Liebste«, sagte Melanie Fuller, Sie trug ein langes Nachthemd und einen dicken, billigen Morgenmantel. Ihre Füße steckten in flauschigen rosa Hausschuhen.
Natalie zog die Decken enger um sich und sagte nichts.
»Ist es kalt, meine Teuerste?« fragte die alte Frau. »Das tut mir leid. Wenn es Ihnen ein Trost sein sollte, es ist im ganzen Haus ziemlich kalt. Ich habe keine Ahnung, wie die Menschen im Norden leben konnten, bevor die Zentralheizung erfunden wurde.« Sie lächelte, und das Kerzenlicht schimmerte auf glänzenden, ebenmäßigen Zähnen. »Würden Sie sich einen M> ment mit mir unterhalten, Teuerste?«
Natalie überlegte, ob sie die Frau angreifen sollte, solange sie noch den freien Willen dazu hatte, um sich danach an ihr vorbei in das dunkle Zimmer draußen zu drängen. Sie sah flüchtig einen langen Holztisch - mit Sicherheit eine Antiquität - und dahinter Steinmauern. Aber zwischen ihr und dem Zimmer stand der Junge mit den Dämonenaugen.
»Sie haben ein Bild von mir von Charleston bis
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