Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
wie der Karmel. Das Haar auf deinem Haupt ist wie Purpur«, sagte Saul über das Tosen des Windes hinweg.
    »Hübsch«, sagte Natalie. »Das Hohelied Salomons?«
    »Das Lied der Lieder«, sagte Saul.
    Als sie sich dem nördlichen Teil der Bucht von Haifa näherten, wiesen Schilder nach Akko, das sowohl mit Acre wie auch mit Saint John of Acre übersetzt wurde. Natalie sah nach Westen zu der weißen, befestigten Stadt, die im hellen Morgenlicht erstrahlte. Es würde ein warmer Tag werden.
    Eine schmale Straße führte von der Straße von Akko nach Nahariyya zu einem Kibbuz, wo ein verschlafener Wachmann Saul durch winkte. Sie fuhren an grünen Feldern und dem Komplex des Kibbuz vorbei und hielten vor einem großen, eckigen Gebäude, vor dem ein Schild in Hebräisch und Englisch verkündete: LOHAME HAGETA’OT, HAUS DER GETTOKÄMPFE, und die Öffnungszeiten. Ein kleiner Mann, dem drei Finger an der rechten Hand fehlten, kam heraus und schwatzte auf hebräisch mit Saul. Saul drückte dem Mann etwas Geld in die Hand, worauf dieser sie nach drinnen führte, lächelte und mehrmals »Shalom« zu Natalie sagte.
    »Toda raba«, sagte Natalie, als sie den Hauptraum betraten.
    »Boker tov.«
    »Shalom«, sagte der kleine Mann. »L’hitra’ot.«
    Natalie sah ihm nach, als er ging, dann ging sie an Schaukästen mit Tagebüchern, Manuskripten und Überbleibseln des vergeblichen Widerstands im Warschauer Getto entlang. Vergrößerte Fotografien an den Wänden zeigten das Leben im Getto und die Grausamkeiten der Nazis, die dieses Leben zerstört hatten. »Es ist anders als Yad Vashem«, sagte sie. »Es herrscht nicht dasselbe Gefühl von Niedergeschlagenheit vor. Vielleicht, weil die Decke höher ist.«
    Saul hatte eine flache Bank herangezogen und setzte sich mit übergeschlagenen Beinen darauf. Er legte einen Stapel Dossiers links und eine kleine, batteriebetriebene Stroboskoplampe rechts von sich ab. »Lohame HaGeta’ot ist mehr dem Gedanken des Widerstands gewidmet als dem Andenken des Holocaust«, sagte er.
    Natalie betrachtete das Foto einer Familie, die aus einem Viehwagen ausstieg; ihre Habseligkeiten lagen neben ihnen als Haufen auf dem Boden. Sie wandte sich rasch ab. »Könnten Sie mich hypnotisieren, Saul?«
    Saul rückte die Brille zurecht. »Könnte ich. Es würde nur viel länger dauern. Warum?«
    Natalie zuckte die Achseln. »Ich glaube, ich bin nur neugierig, wie das ist. Sie scheinen es so ... mühelos zu beherrschen.«
    »Jahrelange Übung«, sagte Saul. »Ich habe jahrelang eine Form von Selbsthypnose benützt, um gegen Migräne anzukämpfen«
    Natalie griff nach einem Ordner und betrachtete die Fotografie der jungen Frau darin. »Können Sie das alles wirklich zu einem Teil Ihres Unterbewußtseins machen?«
    Saul rieb sich die Wange. »Es gibt Ebenen des Bewußtseins«, sagte er. »Auf manchen Ebenen versuche ich, Erinnerungen wiederzugewinnen, die bereits da sind, indem ich versuche, die ... Blockierung zu überwinden, könnte man wohl sagen. In anderer Hinsicht versuche ich, mich zu einem gewissen Grad selbst aufzugeben, indem ich mit anderen mitfühle, die ein ähnliches Erlebnis hatten.«
    Natalie sah sich um. »Und das alles hilft Ihnen dabei?«
    »Gewiß. Besonders da ich unterbewußt einige der biographischen Daten absorbiere.«
    »Wieviel Zeit haben Sie?« fragte sie.
    Saul sah auf die Uhr. »Etwa zwei Stunden, aber Schmuelik hat mir versprochen, daß er Touristen abweisen wird, bis ich fertig bin.«
    Natalie zupfte an ihrer schweren Schultertasche. »Ich mache einen Spaziergang und fange an, das Material aus Wien zu sichten und mir einzuprägen.«
    »Shalom«, sagte Saul. Als er allein war, las er die ersten drei Dossiers gründlich durch. Dann drehte er sich zur Seite, schaltete das kleine Stroboskoplicht an und stellte die Stoppuhr ein. Ein Metronom klackte, abgestimmt auf das pulsierende Licht. Saul entspannte sich vollkommen, verdrängte alles aus seinem Denken, bis auf das gleichmäßige Pulsieren des Lichts, und öffnete sich einer anderen Zeit und einem anderen Ort.
    An den Wänden rings um ihn herum blickten blasse Gesichter durch Rauch und Flammen und Jahre auf ihn herab.
    Natalie stand vor dem eckigen Gebäude und beobachtete die jungen Kibbuzniks, die ihren täglichen Verrichtungen nachgingen, ein letzter Wagen voll Arbeitern, die auf die Felder fuhren. Saul hatte ihr erzählt daß dieser Kibbuz von Überlebenden des Warschauer Gettos und der Konzentrationslager in Polen besiedelt worden

Weitere Kostenlose Bücher