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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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sagte er. »Keine Spur von Trauer. Keine Totenscheine in Philadelphia oder Charleston. Es wäre möglich, daß sie zu nahen Verwandten geschickt wurden, aber Jack hat keinen Weg gefunden, das nachzuprüfen, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Wenn sie alle für Melanie Fuller arbeiten, wäre es durchaus denkbar, daß die alte Dame es einfach satt hatte, so viele Kinder um sich herum zu haben.«
    Natalies Lippen wurden weiß. »Dieses Ungeheuer muß sterben«, flüsterte sie.
    »Ja«, sagte Saul. »Aber ich finde, wir sollten bei unserem Plan bleiben. Besonders jetzt, wo wir sie aufgespürt haben.«
    »Kann sein«, sagte Natalie, »aber der Gedanke, daß niemand sie aufhält ...«
    »Wir werden sie aufhalten«, sagte Saul, »alle. Aber wenn wir eine Chance haben wollen, brauchen wir einen Plan. Es war meine Schuld, daß Rob Gentry sterben mußte. Meine Schuld, daß Aaron und seine Familie gestorben sind. Ich habe gedacht, es bestünde keine Gefahr, wenn wir uns diesen Leuten unbeobachtet nähern können. Aber Gentry hatte recht, als er sagte, es sei, als wollte man Giftschlangen mit geschlossenen Augen fangen.« Er zog ein anderes Dossier zu sich heran und strich mit den Fingern über den Deckel. »Wenn wir uns wieder in den Sumpf wagen, Natalie, dann müssen wir Jäger werden, und nicht einfach nur darauf warten, daß diese tödlichen Ungeheuer wieder zuschlagen.«
    »Sie haben sie nicht gesehen«, flüsterte Natalie. »Sie ist kein ... Mensch. Und ich hatte meine Chance, Saul. Sie war abgelenkt. Ein paar Sekunden hatte ich eine geladene Pistole in der Hand ... aber ich habe das falsche Ding erschossen. Vincent hatte Rob nicht getötet, sie war es gewesen. Ich habe nicht schnell genug gedacht.«
    Saul ergriff ihren Unterarm mit festem Griff. »Hören Sie auf. Sofort. Melanie Fuller ist nur eine Viper im Nest. Wenn Sie sie in dem Augenblick eliminiert hätten, wären die anderen trotzdem in Freiheit geblieben. Ihre Zahl wäre gleichgeblieben, wenn wir davon ausgehen, daß Melanie Fuller Charles Colben getötet hat.«
    »Aber wenn ich .«
    »Nichts mehr«, beharrte Saul. Er strich ihr über das Haar und tätschelte ihr die Wange. »Sie sind sehr müde, meine Freundin, Wenn Sie wollen, können Sie morgen mit mir nach Lohame HaGeta’ot fahren.«
    »Ja«, sagte Natalie. »Das würde ich sehr gerne.« Sie senkte den Kopf, als Saul ihr einen Kuß auf die Stirn gab.
    Später, als Natalie zu Bett gegangen war, schlug Saul einen dünnen Ordner mit der Aufschrift HAROD, TONY auf und las eine Weile darin. Schließlich legte er ihn beiseite, ging zur Eingangstür und schloß sie auf. Der Mond war aufgegangen und tauchte den Berghang und die fernen Dünen in silbernes Licht. David Eshkols großes Haus lag dunkel und stumm auf dem Hügel. Von Westen wurde der Geruch von Orangen und dem Meer hergeweht.
    Nach mehreren Minuten machte Saul die Tür wieder zu, verriegelte sie, überprüfte die Läden und ging in sein Zimmer. Er schlug den ersten der Ordner auf, die Wiesenthal ihm geschickt hatte. Auf dem Stapel banaler Formulare im Kauderwelsch der polnischen Behörden und der knappen Schrift der Wehrmacht lag das Foto eines jüdischen Mädchens, achtzehn oder neunzehn, kleiner Mund, eingefallene Wangen, dunkles, unter einem Baumwolltuch verborgenes Haar und große, dunkle Augen. Saul betrachtete das Foto ein paar Minuten lang und fragte sich, was der jungen Frau durch den Kopf gegangen sein mußte, als sie in die dienstliche Kameralinse gesehen hatte, fragte sich, wie und wann sie gestorben war, fragte sich, wer um sie getrauert hatte und ob er irgendwelche Antworten darauf in dem Dossier finden würde; zimindest die nüchternen Fakten, wann sie wegen des Kapitalverbrechens, Jüdin zu sein, verhaftet wurde, wann sie abtransportiert wurde und vielleicht nur vielleicht -, wann ihre Akte geschlossen worden und alle Hoffnungen, Gedanken, Liebe und die Möglichkeiten ihres kurzen Lebens verstreut worden waren wie eine Handvoll Asche im kalten Wind.
    Saul seufzte und begann zu lesen.
    Sie standen am nächsten Tag früh auf, und Saul bereitete eines dieser üppigen Frühstücke, die, wie er behauptete, Tradition in Israel waren. Die Sonne war kaum über den Hügeln im Osten aufgegangen, als sie einen Rucksack in den Stauraum seines altehrwürdigen Landrover warfen und auf der Küstenstraße nach Norden fuhren. Vierzig Minuten später erreichten sie die Hafenstadt Haifa, die sich am Fuß des Berges Karmel ausbreitete, »Dein Haupt auf dir ist

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