Kraft des Bösen
leerstehenden Fabriken und kleinen Ranchen erstreckten. Natalie studierte Jack Cohens handgemalte Karte, während Saul fuhr. Sie parkten den VW bei einer kleinen Taverne und schritten durch eine Wolke von Staub und kleinen Kindern nach Norden. Auf den Hügeln brannten Feuer, während der letzte Rest der blutroten Dämmerung erlosch Natalie sah auf die Karte und deutete auf einen Pfad eine Hügelflanke hinab, auf der sich zwischen Abfall kleine Gruppen Männer und Frauen versammelt hatten, die um Lagerfeuer herum saßen oder im Dunkeln unter tiefhängenden Bäumen hockten. Eine halbe Meile entfernt im Norden, auf der anderen Seite des Tals, leuchtete ein hoher Zaun weiß vor dem schwarzen Hügel.
»Bleiben wir hier, bis es wirklich dunkel ist«, sagte Saul. Er stellte den Koffer ab und ließ einen schweren Rucksack zu Boden gleiten. »Heutzutage treiben sich angeblich Banditen auf beiden Seiten der Grenze herum. Es wäre ein Witz, wenn wir so weit gekommen wären, um dann von einem Grenzbanditen getötet zu werden.«
»Ist mir ganz recht, eine Weile zu sitzen«, sagte Natalie. Sie waren noch keine Meile gegangen, aber ihre blaue Baumwollbluse klebte ihr bereits am Körper, und die Turnschuhe waren staubverschmiert. Moskitos surrten an ihren Ohren vorbei. Ein einziges elektrisches Licht bei einer Bar auf dem Hügel hatte so viele Insekten angelockt, daß es aussah, als würde Schnee davor fallen.
Sie saßen eine halbe Stunde erschöpft nebeneinander und waren ausgelaugt nach sechsunddreißig Stunden Flug mit Charter- und Linienmaschinen und wegen der ständigen Belastung, mit falschen Pässen zu reisen. Auf dem Flughafen Heathrow war es am schlimmsten gewesen - drei Stunden Verspätung unter den Blicken der Sicherheitsbeamten.
Natalie döste trotz Hitze, Insekten und ihrer unbequemen Haltung neben einem Felsblock, als Saul sie weckte, indem er ihr behutsam eine Hand auf die Schulter legte. »Sie haben sich in Bewegung gesetzt«, flüsterte er. »Gehen wir.«
Mindestens hundert illegale Einwanderer näherten sich in kleinen, schlurfenden Gruppen dem fernen Zaun. Auf dem Hügel hinter ihnen waren noch mehr Lagerfeuer angezündet worden. Weit im Südwesten konnte man die schimmernden Lichter einer amerikanischen Stadt sehen; vor ihnen lagen nur dunkle Schluchten und Hügel. Auf der amerikanischen Seite des Zauns verschwand ein Scheinwerferpaar auf einer unsichtbaren Zufahrtsstraße.
»Grenzpatrouille«, sagte Saul und ging den steilen Pfad hinab und dann einen weiteren Hügel hinauf. Nach wenigen Minuten keuchten sie beide hörbar, schwitzten unter den Rucksäcken und mühten sich mit ihren schweren Rucksäcken voll Dokumenten ab. Sie versuchten zwar, sich von den anderen fernzuhalten, mußten sich aber bald in eine lange Schlange schwitzender Männer und Frauen einreihen, die sich teils leise unterhielten oder auf spanisch fluchten, oder aber in verdrossenem Schweigen dahinstapften. Vor Saul trug ein großer, dünner Mann einen sieben- oder achtjährigen Jungen auf dem Rücken, eine beleibtere Frau daneben einen großen Pappkartonkoffer.
Die Schlange kam in einem ausgetrockneten Bachbett zum Stillstand, zwanzig Meter von einem Abflußrohr entfernt, das unter dem Grenzzaun und der Schotterstraße dahinter durchführte. Dreier- oder Vierergruppen sprangen über das Bachbett und verschwanden im schwarzen Kreis des Abflußrohrs. Gelegentlich waren Rufe von der anderen Seite zu hören, und einmal hörte Natalie einen Schrei, der direkt von der anderen Straßenseite kommen mußte. Natalie stellte fest, daß ihr Herz seit Minuten schneller schlug und ihre Haut klamm vor Schweiß war. Sie hielt den Koffer fester und zwang sich, ruhiger zu werden.
Die gesamte, aus fünfzig oder sechzig Personen bestehende Schlange versteckte sich hinter den Felsen und Büschen, als ein zweites Fahrzeug der Grenzpatrouille vorbeigefahren kam und stehenblieb. Ein heller Suchscheinwerfer strich über das Bachbett und drei Meter an dem kümmerlichen Dornbusch vorbei, den Natalie und Saul als Deckung benützen wollten. Schreie und das Geräusch eines Schusses von Nordosten veranlaßten die Patrouille, mit in Englisch plärrendem Polizeifunk bei Höchstgeschwindigkeit weiterzufahren, worauf die Schlange der Illegalen wieder konstant weiter auf das Abflußrohr vorrückte.
Nach wenigen Minuten kroch Natalie auf allen vieren hinter Saul und schob den schwarzen Koffer vor sich her, während der Rucksack gegen das Wellblech des Rohres stieß. Es
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