Kramp, Ralf (Hrsg)
es sind noch viele Einheimische und Touristen auf den Beinen, die aus den Kneipen kommen oder Kneipen suchen. Cynthia Fries spürt, wie Kaminski ihr oberhalb ihrer Taille irgendetwas in den Rücken drückt. Später wird sie aussagen, es habe sich angefühlt wie ein sehr harter Gegenstand.
Als die beiden linkerhand die Post erreichen, genau gegenüber der
Marienapotheke
, sagt Kaminski halblaut: »Wir gehen geradeaus weiter.«
»Ich kann nicht mehr!«, stellt die junge Frau fest.
»Mach mir keine Zicken! Wir haben es bald geschafft«, erwidert Kaminski fast gemütlich.
DAUN, Freitag, 8. Juli, 22.00 Uhr
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Dieser Zeitpunkt ist definitiv, weil nachweisbar
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Auf der Polizeiwache in Daun geht ein Anruf ein. Eine Männerstimme sagt: »Mein Name ist Weiler, ich wohne in Daun in der Abt-Richard-Straße 26. Ich glaube, der Kaminski war wieder hier im Haus, also der, dessen Familie hier mal wohnte. Ist ausgezogen so vor vier, fünf Monaten. Ich habe die Stimme wiedererkannt. Leo heißt er wohl. Hat im Treppenhaus rumgebrüllt und wollte zu seiner Familie. Aber die ist ja weg. Und jetzt hat er eine junge Frau, die gegenüber wohnt, also auch im zweiten Stock. Und die ging vor ihm her. Und er hielt was in der Hand, also am Rücken der Frau.«
»Heißt das, dieser Kaminski bedrohte diese Frau?«, fragt der Polizeibeamte vom Dienst.
»Ja, sah so aus. Jedenfalls habe ich das gesehen, als ich aus dem Wohnzimmerfenster auf die Straße sah. Und er hat im Treppenhaus rumgebrüllt, er wäre bewaffnet.«
»Und wo ist dieser Kaminski hin mit der Frau?«
»Links runter, also Richtung Innenstadt.«
»Und wie lange ist das her?«, fragt der Beamte.
»So zwei bis drei Minuten, vielleicht auch weniger«, antwortet Weiler. »Also, weit können die noch nicht sein.«
DAUN, Freitag 8. Juli, 22.03 Uhr
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Der Polizeibeamte auf der Wache ruft einen Streifenwagen, der auf Höhe der Ortschaft Pelm vor Gerolstein auf der B410 unterwegs ist. Er sagt, es bestehe ein Verdacht auf Freiheitsberaubung oder Geiselnahme. Ort: Daun, Innenstadt. Die Streife soll sofort losfahren, ohne Blaulicht, ohne Horn.
Es ist 22.04 Uhr als der Beamte den Leiter der Polizeibehörde Daun in seiner Wohnung anruft und erklärt: »Ich glaube, Chef, Sie müssen kommen. Wir haben eine Schweinerei hier …«
DAUN, Freitag, 8. Juli, 22.17 Uhr
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Ungefähr zu diesem Zeitpunkt erreichen Cynthia Fries und Leo Kaminski bei ihrem Gang, die Lindenstraße und die Wirichstraße entlang in Richtung Krankenhaus
Maria Hilf
, einen entscheidenden Punkt. Dort verläuft, leicht nach links versetzt, eine schmale Gasse, die direkt auf die Kirche
St. Nikolaus
zuläuft. Rein instinktiv will Cynthia Fries an dieser Stelle geradeaus gehen, weil das der Hauptrichtung der Straße entspricht. Aber Leo Kaminski sagt, jetzt wesentlich ruhiger: »Nein, nach links!« Also geht Cynthia Fries in die schmale Gasse hinein, links am Elektrohaus
Borsch
vorbei.
In ihrem ersten Protokoll wird sie sagen: »Ich habe das automatisch gemacht, ich habe mich auch nicht gewundert, dass es in die schmale Gasse ging, ich wusste ja nicht, was er wollte. Und manchmal hatte ich so viel Angst, dass ich gar nicht gemerkt habe, welchen Weg wir genommen haben. Ich wollte eigentlich dauernd sagen, dass ich unbedingt pinkeln muss, aber das sagte ich nicht. Außerdem stieß er mir oft kräftig in den Rücken.«
Leo Kaminski lässt sie an den Fußgängereinlässen vor der Kirche rechts vorbeigehen. Dann sagt er scharf: »Links jetzt!« Die junge Frau geht nach links, und sie gelangen vor das Kirchenportal. Es muss etwa 22.16 Uhr sein, als Kaminski das Portal der Kirche aufzieht und sagt: »Reingehen. Geradeaus. Dann rechts die Treppe hinunter!«
DAUN, Freitag, 8. Juli, 22.08 Uhr
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Der Leiter der Polizeibehörde ist unterwegs in die Polizeizentrale. Er ist ein energischer Mann, der unter diesen Umständen schnellstmöglich auf Nummer sicher gehen muss, selbst wenn sich die Ereignisse als bedeutungslos herausstellen sollten. Er gibt per Handy den Auftrag, sofort herauszufinden, ob Leo Kaminski telefonisch zu erreichen ist. Er sagt: »Ich bin in ein paar Minuten da!«
Er muss im Fall einer Geiselnahme damit rechnen, dass genau vorgeschriebene Verfahrensweisen, also in der Praxis erprobte Drehbücher, eingehalten werden. Und er weiß, dass im äußersten Fall ein Spezialist der Polizei alle Verantwortung übernehmen wird. Von diesem Zeitpunkt an wird er nur noch zuarbeiten können.
DAUN, Freitag, 8. Juli, 22.21 Uhr
.
Auf
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