Krampus: Roman (German Edition)
melodiös wie ein Cello.
Jesse zog einen Ast mit grauen, verwelkten Blättern aus dem Schnee und ging zurück in Richtung Straße.
»Wo willst du hin?«, fragte Isabel.
»Auf einen Holzweg, schätze ich.«
»Holzweg? Ich sehe hier keinen.«
Jesse schaute sie an, als wollte sie sich über ihn lustig machen. »Soll das ein Witz sein?«
Sie runzelte die Stirn. »Was denn? Was ist ein Holzweg?«
Jesse stieß ein Schnauben aus.
Als Isabels Miene sich umwölkte, musste er unwillkürlich lachen. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Sagst du es mir jetzt oder nicht?«
Jesse schüttelte bloß den Kopf und ging weiter die Auffahrt hoch.
Isabel stand noch ein Weilchen da, bevor sie laut stöhnte und ihm nachlief.
Jesse blieb an der Stelle stehen, an der seine Reifenspuren den Kiesweg verließen. Er wischte mit dem Ast über den frischen Schnee, wodurch es ihm zumindest halbwegs gelang, die Spuren unkenntlich zu machen. Dann warf er den Ast fort. »Das muss reichen.« Ihm fiel auf, dass Isabel noch immer verwirrt aussah. »Falls wir jemals lebend aus diesem Schlamassel rauskommen, dann verspreche ich dir, mit dir einen Holzweg zu gehen.«
Jesse suchte den Horizont mit Blicken ab. Die Wolken zogen sich einmal mehr zusammen, und der Himmel drohte mit Schnee. Jesse hoffte, dass es bald so weit wäre. Neuschnee würde ihre Spuren verdecken. Er ging zurück zum Wagen und holte seine Gitarre heraus. Die Belznickel waren derweil durch die Hintertür in die Kirche eingebrochen, und er folgte Isabel ins Innere.
Es gab keinen Strom, und da die Fenster verrammelt waren, konnte man kaum etwas sehen, aber das staubige Zwielicht bremste die Belznickel nicht. Sie waren bereits damit beschäftigt, Gerümpel und alte Kisten zwischen den Bankreihen hervorzuziehen, um Platz zum Hinsetzen und Hinlegen zu schaffen. Vernon kauerte vor einem gusseisernen Kanonenofen und schob Zedernholzscheite hinein, die von der beschädigten Wandverkleidung stammten.
Auf einem Regalbrett aufgereiht entdeckte Jesse mehrere Öllampen. Er kippte die Ölreste zusammen, bis eine davon voll war. Dann tränkte er den Docht, holte sein Feuerzeug hervor, zündete die Lampe an und stellte sie auf Sparflamme. Anschließend reichte er Vernon das Feuerzeug, und wenig später sorgte der Ofen für Wärme.
Das Innere der Kirche bot kaum mehr Platz als ein Klassenzimmer und war offenbar jahrzehntelang lediglich als Abstellkammer benutzt worden. Auf einer kleinen Plattform vor der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Kanzel. Dahinter hing ein großes, handgeschnitztes Kreuz mit dem leidenden Sohn Gottes daran. Krampus stellte sich davor und schaute Jesus in die gequälten Augen. Sein Schwanz zuckte.
Isabel näherte sich mit einem Armvoll staubiger Vorhänge. »Hier.« Sie warf einen davon Jesse zu. »Nicht viel, aber es hilft ein bisschen gegen die Kälte. Da drüben beim Ofen sind noch mehr, falls du welche brauchst.« Sie ging weiter und verteilte die Vorhänge an die übrigen Belznickel.
Jesse ging mit seiner Behelfsdecke zu einem altersschwachen Klavier, das von Grabwespennestern bedeckt war. Er warf den Vorhang vor der Wand auf den Boden, streckte sich darauf aus und legte die Füße übereinander. Dann lehnte er den Kopf an die Wand und stieß einen langen, müden Seufzer aus. Fühlt sich verdammt gut an, sich mal für eine Weile nicht zu bewegen. Ihm wurde klar, dass er seit beinahe vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf unterwegs war und nichts als ein bisschen Trockenfleisch gegessen hatte. Er legte sich die Gitarre auf den Schoß und versuchte, die losen Bünde zu reparieren. Auch jetzt, da das Instrument kaputt war, beruhigte es ihn nach wie vor, es in der Hand zu halten. Behutsam zupfte er an den Saiten und machte sich daran, die Gitarre zu stimmen. »Verdammt«, flüsterte er, zuckte zusammen und bewegte die Finger. Es fiel ihm zunehmend schwer. Die Wunde in der Hand hatte sich gerötet und entzündet, und Jesse fürchtete, dass er sich eine Infektion geholt hatte. Bei meinem Glück habe ich morgen früh wahrscheinlich eine Blutvergiftung.
Ihm fiel auf, dass Krampus ihn beobachtete. Das Geschöpf hopste auf ihn zu und setzte sich neben ihn. Krampus wirkte erschöpft, dennoch hatte er einen Glanz in den Augen, der zuvor nicht dort gewesen war.
»Es war für uns alle ein langer Tag«, sagte Krampus. »Für mich stellt er jedoch das Ende von fünfhundert Jahren voll langer Tage dar.« Er zog den Sack auf seinen Schoß und streichelte ihn wie ein
Weitere Kostenlose Bücher