Krampus: Roman (German Edition)
angewidert das Gesicht. »Vernon, bring mir den Met.«
Vernon sprang herbei und reichte Krampus die Flasche. Der nahm einen tiefen Zug, um die Bitterkeit herunterzuspülen.
»Vor langer Zeit hat mein Großvater Loki ihn schon einmal getötet. Jetzt werde ich es wieder tun.« Er umklammerte den samtenen Sack. »Eine schreckliche Tragödie war Baldrs Tod. Der holde und schöne Baldr, den alle geliebt haben.« Krampus grinste höhnisch. »Zumindest sagt man das, denn ich habe ihn vor seinem Tod nicht gekannt. Ich habe es von meiner Mutter Hel erfahren, der Königin der Unterwelt. Diese und viele andere Geschichten hat sie erzählt, als ich als Kind vor ihrem Thron saß. Ihre süßen Worte, begleitet vom Klagelied der Toten.«
»Ist ja allerliebst.«
Krampus sah Jesse aus zusammengekniffenen Augen an. »Das ist wohl sarkastisch gemeint.«
»Nee.«
Er bedachte Jesse mit einem abfälligen Blick, fuhr jedoch fort, zu erzählen. »Sie erzählte, dass alle Bewohner von Asgard Baldr liebten, Odins zweitgeborenen Sohn. Alle priesen Baldr, dessen Antlitz so hold und prachtvoll war, dass ein heller Schein von ihm ausging. Der Klang seiner Stimme war süß, und seine Worte waren galant. Laut Hel sprachen die Leute unentwegt von seiner Wohltätigkeit, von seiner Milde gegen die Unterdrückten und davon, was für ein gütiger Helfer er den Traurigen und Entmutigten war – man hörte es so oft, dass man sich hätte erhängen wollen. Einer jedoch ließ sich von Baldrs Anmut und Schönheit nicht einwickeln. Loki, der König aller Ganoven, durchschaute Täuschungen stets schnell, egal, wie schön sie verpackt waren. Er erkannte, dass Baldr ein Betrüger war, und machte es sich zur Aufgabe, ihn vor aller Augen bloßzustellen, insbesondere vor Odin, denn die beiden konnten einander nicht leiden. Schimpf und Schande über das Haus Odins zu bringen, war eine Versuchung, der er nicht widerstehen konnte. Gelegenheit dazu erhielt er, als Baldr den geheimen Entschluss fasste, mehr als eine Gottheit zu werden, indem er ewiges Leben und immerwährende Schönheit erlangte. Zu diesem Zweck ersann er eine Geschichte, mit der er sich die große Liebe seiner Eltern zunutze machen wollte. Er erzählte seinem Vater und seiner Mutter Frigga von wiederkehrenden Albträumen, in denen es um seinen baldigen Tod ging. Seine Eltern, die den Gedanken, dass ihrem über alles geliebten Sohn Leid geschehen könnte, nicht ertrugen, fielen auf Baldrs List herein. Sie bereisten die neun Welten und ließen jede Kreatur der Schöpfung schwören, Baldr nichts zuleide zu tun. Jede Einzelne, mit Ausnahme einer jungen, abgelegenen Pflanze, denn Odin hielt die Mistel für zu unbedeutend und schwach. So errang Baldr die ersehnte Unsterblichkeit.«
Krampus schnaubte. »So heißt es zumindest in den Mythen. Aber Mythen sind voll blumiger Ausschmückungen, und sosehr ich derlei Geschichten liebe – Hel hat mir die Wahrheit erzählt. Odin, der ein großer Magier war, hat Baldr mit einem Zauber belegt. Dieser sorgte dafür, dass kein Element der neun Welten ihn jemals verletzen konnte. Allerdings war der Spruch mit dem Gift des Mistelzweigs gebraut, und so blieb die Pflanze immun gegen seine Wirkung. Sobald Baldr das erstaunliche Geschenk erhalten hatte, prahlte er damit und ermutigte alle Neuankömmlinge dazu, ihn mit einer Waffe ihrer Wahl zu verletzen. Mutter hat erzählt, dass er ein Riesentheater darum veranstaltet hat, sich in der ihm zuteilwerdenden Aufmerksamkeit gesonnt hat und dass das Spiel den anderen Göttern ebenfalls gefiel. Während Baldr immer beliebter wurde, wuchs Lokis Entschlossenheit, ihn bloßzustellen. Loki verkleidete sich als alte Frau und überlistete Frigga, sodass sie das Geheimnis des Mistelzweigs preisgab. Bewaffnet mit diesem Wissen spürte Loki die Pflanze auf und machte einen Pfeil daraus, ein alchimistisches Gemisch aus Mistel und Erz. Mit diesem Pfeil mischte sich Loki unter die Versammelten, als er Baldr das nächste Mal beim Spiel begegnete. Dort traf er auch auf Baldrs blinden Bruder Hödur. Er fragte Hödur, warum er sich nicht an dem Spiel beteilige. Hödur antwortete, dies sei nichts für einen blinden Mann. Daraufhin reichte Loki Hödur einen Bogen samt dem verzauberten Pfeil und bot an, ihm die Hand zu führen. Hödur war begeistert über die Gelegenheit, an dem Spiel teilzunehmen, und spannte den Bogen mit großer Kraft. Der Pfeil traf Baldr in die Brust und bohrte sich tief in sein Herz, woraufhin Baldr vor Frigga und Odin
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