Krampus: Roman (German Edition)
dass man irgendwann aufwachen muss.«
»Was meinst du damit?«
»Es ist an der Zeit für mich, erwachsen zu werden … schätze ich. Aufzugeben. Zeit, meine Träume hinter mir zu lassen … In der Realität ist nämlich kein Platz für Träumereien.«
»Nein.« Krampus’ Tonfall klang bestimmt. »Das ist nicht wahr. Deine Träume sind dein Geist, deine Seele, und ohne sie bist du tot.« Er machte eine Faust. »Du musst deine Träume bewachen. Immer. Sonst stiehlt sie dir jemand. Ich weiß, was es bedeutet, wenn einem jemand die Träume stiehlt. Ich weiß, was es bedeutet, tot zu sein.« Seine Stimme war nun beinahe ein Knurren. »Bewache deine Träume. Bewache sie immer und überall.«
Eine ganze Weile schwiegen sie beide.
»Wie geht es deiner Hand?«, fragte Krampus schließlich.
Jesse blickte auf die Wunde. Die Rötung war größtenteils verschwunden. Prüfend bewegte er die Finger und spürte so gut wie keine Schmerzen.
»Ist es besser?«
»Ja«, sagte Jesse voll Staunen. »Deutlich besser.«
»Gut.«
Vernon kam heran, beugte sich vor und spähte zwischen den Latten am Fenster neben ihnen hindurch.
»He«, rief Krampus, »hör auf, dich verrückt zu machen. Das hilft keinem.«
Der Belznickel hob hilflos die Hände. »Wie könnt ihr es euch so gemütlich machen, obwohl ihr wisst, dass diese Kreaturen auf der Jagd nach uns sind?«
»Vernon, komm her.«
Er verharrte am Fenster und zwirbelte sich nervös den Bart. »Schließlich waren sie nicht mehr so weit weg.«
»Komm her, Vernon. Ich befehle es dir.«
Der Belznickel kam zu ihm.
Krampus hielt ihm die Flasche hin. »Trink.«
Vernon schob sich eine fettige Haarsträhne aus dem Gesicht und beäugte die Flasche misstrauisch.
»Met.«
Vernons Miene hellte sich auf. »Ach so.« Er ergriff die Flasche und nahm erst einen und dann noch einen tiefen Zug daraus.
»Reich sie weiter«, sagte Krampus. »Gib Nipi auch etwas ab … er braucht es dringend.«
Jesse fiel auf, dass Nipi den blutdurchtränkten Lumpen von seiner Wunde entfernt hatte. Sein Gesicht war um das Einschussloch herum rot und geschwollen, aber nicht entzündet, und anscheinend bildete sich sogar bereits Narbengewebe. Unter normalen Umständen hätte das Jesse sicher mehr verblüfft, aber er hatte an diesem Tag bereits genug Wunder gesehen, um zu begreifen, dass hier Magie im Spiel war.
Vernon ging mit der Flasche zu Nipi. Der nahm einen tiefen Schluck und reichte sie weiter. Die Flasche kreiste, bis alle Belznickel mit beseelten Mienen auf ihren improvisierten Betten saßen oder lagen.
Jesse fiel auf, dass Krampus ins Leere starrte, während er sanft und verträumt den Samtsack in seinem Schoß streichelte. »Also«, fragte Jesse, »wovon träumt ein Krampus?«
Krampus hörte auf, den Sack zu streicheln, schwieg jedoch erst mal. »Ich träume davon, einmal mehr die Pracht der Julzeit durch die Lande zu tragen, davon, den alten Glanz der Mutter Erde wiederherzustellen. Davon, auf der ganzen Welt meine Tempel und Schreine zu sehen. Dass alle Völker meiner huldigen. Das, Jesse, Schöpfer von Musik, ist mein Traum.«
»Auf der ganzen Welt, was? Na ja, es schadet bekanntlich nicht, sich große Ziele zu setzen.«
Der Ältere nickte, aber sein Blick ging nach wie vor in weite Ferne.
»Die Julzeit? Ich dachte, das wäre dasselbe wie Weihnachten.«
»Weihnachten«, fauchte Krampus. »Nein, Weihnachten ist etwas Abscheuliches. Eine Verirrung! Die Julzeit verkörpert den wahren Geist der Mutter Erde. Zur Julzeit wird das Jahr wiedergeboren. Ohne sie kann Mutter Erde sich nicht heilen … sie wird welken und sterben. Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass ich den Geist der Menschheit wiedererwecke. Dass ich ihnen helfe, wieder zu glauben. Denn die Kraft ihres Glaubens, ihrer Liebe und Hingabe wird das Land heilen.«
»Nur damit ich das richtig verstehe: Dieser Weihnachtsmann oder Sankt Nikolaus ist dir dabei irgendwie im Weg?«
»Sein Name ist eine Lüge. Eine Täuschung.« Krampus kräuselte die Lippen zu einem höhnischen Lächeln. »Er heißt nicht Sankt Nikolaus. Sein Name ist … sein wahrer Name ist …« Er zögerte, offenbar unfähig, weiterzureden.
***
Baldr, dachte Krampus, und sprach es dann laut aus. »Baldr. Das ist sein wahrer Name.«
»Der vom Weihnachtsmann?«
»Ja. Sein wahrer Name lautet Baldr.« Da, es ist heraus. Nach fünfhundert Jahren berührt sein Name zum ersten Mal wieder meine Zunge. Als er den bitteren Geschmack des Wortes spürte, verzog er
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