Krank (German Edition)
bewegte den Daumen wie ein Imperator, hoch und runter, hoch und runter.
Die Ausführungen meines Bruders waren kryptisch, was typisch für ihn war und mich jedes Mal auf die Palme brachte. Ich war sauer auf ihn und auf mich. Wieder einmal bat ich einen Geisteskranken, mir den Geisteszustand eines meiner Mitmenschen zu erläutern. Und ich tauchte abermals in eine Welt ein, in der Bilder und Symbole wie blinde Wale in einem dunklen Meer aufeinanderprallten.
Kopfschüttelnd erhob ich mich. Die letzten vierundzwanzig Stunden kamen mir wie ein Alptraum vor.
»Ich fahre nach Hause«, verkündete ich.
»Was?«
»Ich fahre zurück nach Mobile, Jeremy. Morgen werde ich packen und übermorgen abreisen.«
Er schwieg eine Weile. »Ich habe für einen längeren Aufenthalt bezahlt, Carson.«
»Fordere einfach einen Teil des Geldes zurück, Jeremy. Ich haue jedenfalls ab.«
Zum zweiten Mal an diesem Abend verabschiedete ich mich von einem anderen menschlichen Wesen, aber diesmal fühlte ich mich gut dabei. In meiner Hütte angekommen, duschte ich und begann, meine Habseligkeiten zusammenzusuchen. Als ich merkte, wie müde ich war, ließ ich mich aufs Sofa fallen und schlief sofort ein.
*
Am nächsten Morgen riss mich eine Sirene, die vor meinem Fenster aufheulte, jäh aus dem Schlaf. Ich sprang aus dem Bett und spähte nach draußen. Cherry saß in einem weiteren Crown-Vic-Exemplar, was mich auf die Frage brachte, ob die Kentucky Police dieses Fahrzeugsegment komplett aufkaufte. Als Mix-up und ich auf die Veranda stolperten, war Cherry endlich so gnädig, das lärmende Ding auszuschalten. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und blinzelte.
»Du liebe Zeit, was ist denn jetzt schon wieder?«
»Tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe«, meinte Cherry und stieg aus. »Es ist was passiert, und ich fand, Sie sollten das erfahren. Zeke Tanner wird vermisst.«
Vor meinem geistigen Auge sah ich die beiden Sanitäter mit den Paddles, die von dem Verstorbenen zurückwichen.
»Verschwunden? Ich dachte, er sei tot.«
»Die Leute vom gerichtsmedizinischen Institut haben heute Morgen einen Wagen geschickt. Tanners sterbliche Überreste sollten vom Bestattungsinstitut ins Leichenschauhaus von Frankfort überführt werden. Als der Bestattungsunternehmer den Leichnam für den Transport fertigmachen wollte, war er verschwunden. Jemand hatte ein Fenster eingeschlagen und sich Zutritt verschafft.«
Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Die Vorkommnisse bekamen zunehmend einen grotesken Anstrich.
»Ich fahre jetzt rüber und knöpfe mir den Bestattungsunternehmer vor.« Sie deutete mit dem Kinn auf den Beifahrersitz. »Begleiten Sie mich?«
»Ich habe beschlossen, meine Zelte hier abzubrechen, und wollte heute eigentlich packen und morgen aufbrechen.«
Für einen Sekundenbruchteil schaute sie ziemlich verdutzt aus der Wäsche, ehe es ihr gelang, ihre Überraschung zu verbergen. »Sie werfen mittendrin das Handtuch?«
»Das hier ist nicht meine Schlacht, Cherry.«
Sie rang sich ein Lächeln ab und hob den Daumen. »Okay, ich hab’s kapiert. Ich würde es auch nicht anders machen.« Das Lächeln fror langsam ein.
»Vielleicht könnte ich ja eine kleine Pause vom Packen gebrauchen«, meinte ich.
*
Harold Caldwell, der Bestattungsunternehmer, war ein korpulenter Mitfünfziger, dessen stattliches Doppelkinn unablässig über dem weißen Hemdkragen und blauen Krawattenknoten vibrierte. Obwohl die Luft in seinem Räumen so kalt wie in einem Kühlhaus war, begann er zu schwitzen, als ich ihn wegen des verschwundenen Leichnams befragte. Caldwell gehörte zu dem Typus, der sich ganz auf die Details versteifte und Kraft daraus schöpfte, wenn man ihn in die Zange nahm.
»Um welche Uhrzeit ist Ihnen aufgefallen, dass Mr. Tanner verschwunden ist, Mr. Caldwell?«
»Wie ich bereits Detective Cherry sagte, hole ich mein Frühstück bei McDonald’s. Ein Kaffee, zwei Egg McMuffins und …«
»Die Uhrzeit?«
»Viertel nach sechs. Ich bin etwas früher gekommen, um die Papiere für den Transport vorzubereiten. Man muss sieben Formulare ausfüllen, eins für …«
»Wer ist gestern Abend als Letzter hier gewesen?«
»Wendell Nockle, unser Hausmeister. Hmm, ich glaube, heute bezeichnet man so jemanden wohl eher als Facility Manager oder …«
»Wann ist Nockle gegangen?«
»Er geht meistens um halb acht. Blanche’s Diner schließt um acht Uhr. Das Personal dort hebt für Wendell immer ein Stück Kuchen auf. Apfel, Banane. Oder
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