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Krank (German Edition)

Krank (German Edition)

Titel: Krank (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerley
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steht«, sagte sie mit einem Augenzwinkern, »aber da muss ich mich wohl getäuscht haben.«
    »Sie sollten eine Brüstung anbringen«, riet ich ihr und nahm ein Roastbeef-Käse-Sandwich. »Einen Zaun oder eine kleine Mauer.«
    »Ich weiß doch, wo der Abgrund ist«, entgegnete sie. »Und außerdem würde eine Brüstung mir den Ausblick verderben.«
    »Der ist wirklich einzigartig, das muss ich Ihnen lassen. Und dass Sie in einem richtigen Blockhaus wohnen, beeindruckt mich schwer.« Ich klopfte mit den Knöcheln gegen den Holzrahmen, der so stabil wie Beton wirkte.
    »Horace Cherry, der Bruder meines Vaters, hat es vor dreiunddreißig Jahren gebaut. Mein Vater starb, als ich sieben war. Horace, der kinderlos blieb, hat mich unter seine Fittiche genommen. Er ist vor drei Jahren gestorben und hat mir das Haus vermacht, weil er wusste, dass es mir genauso viel bedeutet wie ihm.«
    »Haben Sie Geschwister?«
    »Nein, aber dafür eine große Verwandtschaft.« Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich bin die letzte meiner Art.«
    »Hier scheint jeder mit jedem verwandt zu sein.«
    »Wenn selbst hundert Jahre nach der Besiedlung eines Landstriches nur ein paar Dutzend Familien in der Gegend wohnen, ist natürlich jeder irgendwie mit jedem verwandt. Ein Autor hat die Appalachen mal als die fremdartigste aller amerikanischen Kulturen bezeichnet.«
    »Ach ja?«, wunderte ich mich. »Haben sich hier nicht hauptsächlich Schotten und Iren angesiedelt?«
    »Und Engländer und ein Haufen Deutscher. Da sie in der alten Heimat freie Bauern gewesen sind, kannten sie sich mit Viehzucht und Ackerbau aus. Diese Leute wussten, wie man dem harten, kargen Boden, der Weicheier abschreckte, einen Ertrag abtrotzen konnte. Die Leute hier wirken nicht fremdartig, weil sie sich so stark von ihren Mitmenschen unterscheiden, sondern weil sie sich im Lauf von Jahrhunderten kaum verändert haben. Insofern könnte man sagen, dass sie fremd im Hier und Jetzt sind.«
    Ich biss in mein Sandwich. »Empfinden Sie das auch so?«
    »Ich bin mit Menschen aufgewachsen, die diese Gegend hier nie verlassen haben und das auch nie tun werden. Sie fahren nicht mal nach Lexington, weil das schon zu weit weg ist. Von dieser Sorte gibt es hier mehr, als Sie denken. Ich hingegen war auf dem College und habe sogar ein paar Monate im Ausland verbracht. Ich war selbst im hippen New York und in Los Angeles. Ich mag Großstädte, aber hier gefällt es mir auch. Man könnte also sagen, dass ich zwischen zwei Stühlen sitze. Kommen Sie, Carson, ich zeige Ihnen mein Haus.«
    Ich folgte ihr nach drinnen. Das Blockhaus hatte in etwa denselben Grundriss wie meine Hütte am Ende der Straße, war jedoch um die Hälfte größer. Im Wohnzimmer mit der Gewölbedecke gab es eine Galerie mit einer Tür, die ins Schlafzimmer führte.
    Die bis zum First reichende Wand mit dem offenen Kamin und die Wand neben der Treppe waren verputzt oder mit Gipskartonplatten verschalt und cremefarben gestrichen. Dieser Farbton bildete den perfekten Hintergrund für die vielen gerahmten Fotos, alten Werbeposter und das antike Werkzeug, das Cherry dort aufgehängt hatte. Ein brauner Strohhut mit rotem Band bildete das Kernstück ihrer Sammlung. Die Präsentation solch unterschiedlicher Gegenstände war kein leichtes Unterfangen, doch Cherry hatte ein Auge für Komposition und Balance.
    Mich interessierte vor allem das alte Werkzeug, diese eigenwillige Ansammlung aus Holz, Leder und Metall. Ein paar Arbeitsgeräte wirkten grausam und fast bedrohlich. »Solches Werkzeug ist mir bisher noch nie unter die Augen gekommen«, meinte ich. »Was für Gerätschaften sind das?«
    Sie trat näher und stellte sich, mit der Bierflasche in der Hand, neben mich. »Keine Ahnung. Die habe ich in Onkel Horaces Schuppen gefunden. Haben wahrscheinlich irgendwas mit Pferden zu tun. Der Hut gehörte auch ihm, er hat ihn immer und überall getragen. Das hier ist mein Lieblingsfoto …«
    Sie deutete auf eine Aufnahme von einem hübschen jungen Mädchen, acht oder neun Jahre alt, das neben einem Mann mit breitem Brustkorb und dunklen Haaren stand, die mit Pomade nach hinten gekämmt waren. Er trug einen cremefarbenen Anzug, ein dunkles Bolotie und den Hut, der jetzt an der Wand hing. Und er grinste bis über beide Ohren, als hätte er gerade im Lotto gewonnen.
    »Onkel Horace und Sie?«
    »Ja, auf den meisten Fotos hier werden Sie Onkel Horace finden.«
    Ich betrachtete eine andere Aufnahme, auf der Onkel Horace

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