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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Stimme. Schwerfällig bewegen sich ihre Gedanken. Jemand schüttelt sie.
    Sie öffnet die Augen, konzentriert sich.
    »Frau Kronawitter, ist Ihnen wieder besser?«
    Sie nickt. »Danke, Fräulein Elsbeth.«
    »Ich bin reingekommen, weil ich Ihnen doch noch das Geld geben muss«, sagt die junge Kaminski. »Sie wissen doch, für die Pralinen. Ich habe es ganz vergessen gehabt wegen der Aufregung. Und da haben Sie über der Theke gelegen und sich nicht mehr gerührt.« Die junge Kaminski ist besorgt und aufgeregt. Immer wieder streicht sie Frau Kronawitter über den Arm. »Soll ich Sie nach Hause bringen?«
    Frau Kronawitter muss sich beim Sprechen anstrengen. Ganz weich ist sie innen drin. Wo soll sie da die Stimme hernehmen?
    »Nein«, sagt sie. »Nein, das ist nicht nötig. Wenn Sie mir einen Gefallen tun könnten, dann holen Sie bitte die Frau Paulus, in siebenundachtzig wohnt sie, die Erdgeschosswohnung rechts.«
    Die junge Kaminski geht. Und dann ist die Lena da, hilft ihr, den Mantel überzuziehen, nimmt den Wastl an die Leine und führt sie über die Straße. Sie gehen nicht bis zur Ampel.
    Zu Hause hilft die Lena ihr auch ins Nachthemd. Frau Kronawitter schämt sich, als sie sich auszieht. Sie hofft, Lena würde wegschauen, sich umdrehen. Aber das tut sie nicht.
    »Stell dich nicht so an, Hannerl, wir sind doch alle gleich, wir Weiber«, sagt Lena und lacht.
    Dann liegt Frau Kronawitter im Bett. Lena bleibt bei ihr, bis Doktor Marschmann kommt, antwortet für sie, hält ihr die Hand bei der Spritze.
    Endlich kann sie schlafen.

15.
    Herbert rennt durch die Straßen, rennt so lange, bis er keine Luft mehr bekommt. Er lehnt sich an eine Hauswand und wartet, bis sein Körper sich beruhigt, bis das Stechen in den Seiten nachlässt.
    Dann geht er weiter, Richtung Bahnhof, weg von zu Hause. Er braucht Abstand zwischen sich und dem, der ihn mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen hat, wie einen kleinen dummen Jungen hat er ihn geschlagen.
    Dabei ist doch gar nicht viel passiert. Nur das mit der Kaffeekanne. Es hat so lustig angefangen, Schweinekotelett zum Mittagessen, ein gut gelaunter Vater, der den Arm um die Mutter gelegt und sie zu sich auf den Schoß gezogen hat. Sie hat sich freigemacht. »Lass doch, was soll der Junge denken?«
    Sie wollte den Schwamm zum Spülen nehmen. Der Vater hat gelacht. Er hat längere Arme als sie, er hat den Schwamm vor ihr erwischt. Übermütig hat er ihn Herbert zugeworfen.
    »Da! Fang!« Und zur Mutter hat er gesagt, sie soll sich auf seinen Schoß setzen.
    Die Mutter, verlegen lachend, hat versucht, Herbert den Schwamm abzunehmen. Herbert hat ihn zurückgeworfen zum Vater. Der hat ihn der Mutter hingehalten: »Los, komm doch, hol ihn dir, wenn du kannst.«
    Und dann hat er ihn wieder zu Herbert geworfen, schräg durch die Küche, weil die Mutter sich hochgereckt und an seinem Arm gerissen hat. Der Schwamm ist über das Spülbecken geflogen wie ein grüner Vogel, grün mit gelbem Bauch, und Herbert hat die Hand danach ausgestreckt. Dabei hat er die Kaffeekanne auf den Boden geworfen, die am Spülbecken gestanden hat. Auf einmal hat der Vater nicht mehr gelacht. »Du Trottel«, hat er gesagt und Herbert ins Gesicht geschlagen. »Du Trottel.«
    Herbert hat nicht mehr gesagt, dass er das ja nicht mit Absicht gemacht hat. Er hat es nicht rausgebracht. Er ist einfach weggelaufen.
    Eigentlich hätte er an die Schläge schon gewöhnt sein müssen. Aber jedes Mal denkt er, dass es diesmal das letzte Mal gewesen ist. Ab jetzt nicht mehr. Nie mehr. Ich bin kein kleines Kind mehr.
    »Du bist ja schon groß, fast erwachsen.«
    Nach jedem Schlag fängt er wieder an zu hoffen, obwohl er es doch besser wissen könnte. Er denkt: Vielleicht bin ich doch nicht so schlimm. Er bemüht sich, den Eltern zu beweisen, dass er nicht so schlimm ist.
    Ich tu doch alles, was ihr wollt.
    Mein Zeugnis, da könnt ihr doch zufrieden sein.
    Ich bringe den Mülleimer runter, immer, nie sage ich Nein.
    Ich bin still, wenn ihr das wollt.
    Ich lache, wenn ihr lacht.
    Ich gebe mir Mühe, alles richtig zu machen.
    Ich tu doch alles. Ich kann doch nichts dafür, dass ich nicht verstehe, was ihr wollt, wie ihr mich wollt, dass ich es oft zu spät merke.
    Aber dann kommt das nächste Mal doch wieder. Es ist nicht so sehr der Körper, der ihm wehtut, nicht die Backe, die unter dem Schlag rot wird. Es ist, dass er immer wieder klein wird, klein und schäbig, armselig, unfähig. Es ist, dass er nicht begreifen kann, wieso

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