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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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dem Vater eine Kanne wichtiger ist.
    Oder die umgestoßene Milchflasche.
    Oder ein Wort, das ihm herausgerutscht ist, gedankenlos, nicht frech gemeint, wirklich nicht. Ich tu doch alles, was ihr wollt.
    Oder eine Stunde warten.
    Herbert schämt sich immer noch, wenn er daran denkt. Die Narben von diesen Schlägen gehen nicht weg, auch wenn sein Hintern schon lange verheilt ist.
    Es ist schon ein paar Jahre her, elf war er, im Urlaub in Italien. Sie wohnten in einer kleinen Wohnung, nicht weit vom Strand. Nebenan, Balkon an Balkon mit ihnen, wohnte eine andere deutsche Familie mit zwei Töchtern. Herbert spielte oft mit diesen Mädchen unter dem wolkenlosen Himmel.
    »Mama, ich will mit Susi und Ina zum Strand gehen, darf ich?«
    »Geh nur«, sagte die Mutter. »Aber zum Mittagessen bist du wieder da.«
    »Punkt zwölf«, fügte der Vater hinzu. »Punkt zwölf.«
    Sie haben im Sand gespielt, sich hingeworfen, reingeschmissen in die trockene Wärme, haben sich gegenseitig zugeschaufelt und gelacht, gelacht, gelacht.
    Dann sind sie heimgegangen, hungrig, das Gelächter noch im Gesicht. Als sie auf das Haus zugingen, sah Herbert seinen Vater auf dem Balkon stehen. Das Gesicht war nur ein Fleck, verschwommen in dem überhellen Licht. Aber Herbert kannte seinen Vater, wusste, wie das Gesicht jetzt aussah, wusste es lange, bevor er es tatsächlich erkennen konnte, das breite Gesicht mit dem Mund, der ganz schmal wurde, wenn der Vater sich ärgerte.
    Herbert hörte nicht mehr das Lachen der Mädchen, verstand nicht mehr die Worte, die sie sagten. Wie von einem Band gezogen, lief er zu diesem Gesicht hin, zu diesem Mann, der auf dem Balkon auf ihn wartete.
    Der Mann setzte sich auf den Stuhl, der da stand, zog Herbert die Badehose runter und griff nach ihm, zwang ihn, sich über seine Knie zu legen, den nackten Hintern nach oben. Er hatte den Gürtel ausgezogen und schlug Herbert damit.
    »Ich habe gesagt, dass du um zwölf Uhr da sein sollst. Weißt du, wie viel Uhr es ist?«
    Herbert antwortete nicht. Er konnte nicht antworten, er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu weinen. Er wollte nicht, dass die beiden Mädchen ihn weinen hörten.
    »Sieben, acht, neun, zehn«, zählte der Vater.
    Er schob Herbert von seinen Knien runter. Herbert stand da, in der Sonne, in dem warmen, hellen Licht, und starrte in die Gesichter der Mädchen auf dem Nachbarbalkon. Er erschrak vor der Neugier, dem mit Lust vermischten Entsetzen.
    Herbert zog seine Badehose hoch.
    Er spielte nicht mehr mit diesen Mädchen, schaute an ihnen vorbei, antwortete nicht, wenn sie ihn ansprachen.
    Wenn sie Mitleid gehabt hätten!
    Aber das war es nicht, was er in ihren Gesichtern gesehen hatte.
    Herbert ballt die Hand um das Messer in seiner Tasche, findet langsam das Gefühl der Sicherheit wieder. Eine Ohrfeige ist nicht so schlimm, das kann ja mal passieren. Und das andere ist lange her.
    Am Bahnhofsplatz sind immer viele Menschen, sehr viele. Herbert mag das, weil er die Menschen nicht kennt. Es ist anders als in der Schule. Er mag das zufällige Streifen, das heimliche Berühren, Gesichter, die er anschauen kann, weil sie ihm fremd genug sind.
    Er lässt sich treiben, wird gedrängt, auf die Rolltreppe zur Unterführung geschoben. Auf der Stufe unter ihm steht eine Frau in einer Pelzjacke und einem engen Rock. Der Rock ist wirklich sehr eng. Herbert macht einen Schritt nach unten und er streift den weichen Pelz, fühlt das zarte Kitzeln an seiner Backe, riecht den Geruch nach Blumen. Veilchen sind es. So riechen Veilchen.
    Die Frau dreht sich um. »Drängel nicht so. Du kommst schon noch runter.«
    Ihre Stimme ist weich wie ihre Jacke.
    Herbert lässt sich in diese Stimme fallen, genießt den flüchtigen Blick aus den grauen Augen, uninteressiert, aber nicht unfreundlich. Er atmet tief ein. Der Geruch nach Veilchen umfasst sie beide, sie und ihn.
    Herbert folgt der Frau in die neonbeleuchtete Unterführung. Er folgt dem Pelzrücken über dem engen Rock. Die roten Haare leuchten auf, als sie an einer Lampe vorbeigeht. Auf der Rolltreppe nach oben steht er dicht hinter ihr, berührt mit seinem Gesicht das Fell ihrer Jacke, ganz vorsichtig, damit sie nichts merkt. Sie geht in das Bahnhofsgebäude hinein. Ihr Koffer ist schwer, ihre linke Schulter wird von seinem Gewicht hinuntergezogen. Sie bleibt kurz stehen, nimmt den Koffer in die andere Hand und geht weiter.
    An Gleis zwanzig biegt sie auf den Bahnsteig ein. D-Zug nach Basel. Herbert folgt

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