KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
seiner Familie entschlossen, die Krebsbehandlung nicht weiter aufzunehmen. Nicht einmal ein Drittel der geplanten Strahlendosis hatte Herr S. erhalten, und allen war bewusst, dass sein Krebs damit nicht besiegt sein konnte. Ich drückte ihm die Hand und verabschiedete mich.
Sechs Monate nach diesem Gespräch
saß ich wie fast jeden Mittwochnachmittag in der Tumorsprechstunde des Tübinger Zentrums für Tumoren im Kopf- und Halsbereich. Die Tür ging auf, Herr S. betrat den Raum, kam aufrecht auf mich zu, ging auf seinen beiden eigenen Beinen – und war bester Stimmung. Von den schweren Nervenschäden hatte er sich nicht nur fast vollständig erholt, auch dort, wo der Tumor gewuchert hatte, spürte er keinerlei Beschwerden. Wir untersuchten ihn und registrierten eine Narbenplatte im Bereich des Mundbodens, aber nichts, was auf einen bösartigen Tumor hindeuten könnte. Zur Sicherheit veranlassten wir eine Computertomographie der Region und entnahmen einige Gewebeproben aus der Narbe. Zu unserer aller Überraschung bestätigten die Pathologen unseren Eindruck: Auch unter dem Mikroskop war keine einzige Krebszelle mehr zu entdecken. Bis heute 4 hat sich der Krebs von Herrn S. nicht zurückgemeldet. Jetzt, wenn ich an ihn denke, drücke ich ihm fest beide Daumen.
Es ist sehr schwer zu sagen, wie häufig Spontanheilungen tatsächlich auftreten. Im Jahr 1906 auf dem 1. Internationalen Kongress für Krebsforschung in Heidelberg schätzte der britische Krebsforscher Ernest Bashford, dass eine Spontanheilung bei 100
000 Krebserkrankungen zu beobachten ist. Das entspräche in Deutschland knapp fünf Fällen pro Jahr. Die meisten Ärzte haben also eine Spontanheilung noch nie mit eigenen Augen gesehen und werden ihr auch im Laufe ihres Berufslebens nicht begegnen. Wir können aber allen Skeptikern zum Trotz festhalten: Das Phänomen existiert.
Auch sehr seltene Ereignisse
werden nicht als Wunder betrachtet, wenn esplausible und nachvollziehbare Erklärungen gibt, wie sie zustande kamen. Das gilt auch für Ereignisse, die sich offensichtlich dem Zufall verdanken. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, dass der Gewinn des Lotto-Jackpots, sechs Richtige mit Zusatzzahl, nur durch den Eingriff einer höheren Macht zu erklären ist. Bei den Spontanheilungen ist es anders. Für sie haben wir bisher keine konsistente, wirklich überzeugende und vor allem im Einzelfall nachvollziehbare Erklärung. Wer mag, kann sie daher gern als Wunder der ersten Art, als Fingerzeig auf die Handschrift eines Gottes werten.
Der Franziskaner William von Baskerville, eine der beiden Hauptfiguren aus Umberto Ecos opulentem Roman Der Name der Rose , rief gern seinen geschätzten Lehrmeister Wilhelm von Ockham in den Zeugenstand, wenn er seinen Adlatus Adson von Melk überzeugen wollte, doch erst allen irdischen Spuren nachzugehen, bevor er, wie viele seiner Confratres, die vielen mysteriösen Ereignisse im Kloster der Benediktiner voreilig und ungeprüft einfach dem dämonischen Wirken höherer Mächte zuschrieb. Wilhelm von Ockham (1285–1347) lebte, anders als Ecos berühmteste Romangestalt William von Baskerville, tatsächlich. Sein Denken war seiner Zeit mindestens 200 Jahre voraus. Kritische Geister unter den Menschen schätzte er mehr als die Autorität der Kirchenväter. Wilhelm von Ockham dachte häufig und tiefsinnig über die menschliche Vernunft, ihre Möglichkeiten und Grenzen, nach. In seinen Schriften taucht immer wieder implizit eine Art von mentalem Hygieneprinzip als Gütekriterium des vernünftigen Denkens auf. Später wurde daraus eine der wichtigsten Grundregeln der Wissenschaftstheorie und ist heute als »Ockhams Messer« geläufig.
Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem lautet die bekannteste Formulierung seiner Maxime und lautet übersetzt in etwa: »Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden«. Übersetzen wir diesen sperrigen Jargon in unsere heutige Alltagssprache, dann besagt »Ockhams Messer« etwa Folgendes: Bei unterschiedlichen Erklärungen eines Phänomens bevorzugt man die Hypothese, die am einfachsten und elegantesten ist und mit den wenigsten Zusatzannahmen und Voraussetzungen auskommt. Anders ausgedrückt: Überall dort, wo plausible irdische Begründungen (oder empirische Belege) zu finden sind, sollten wir keine übernatürlichen Wesen bemühen, um die weltlichen Phänomene um uns herum zu erklären.
Es ist daher nicht nur legitim, sondern auch spannend und vielleicht
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