KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
der Taufe gehoben. Ziel dieses Projekts war es, die komplette Sequenz des Erbgutes eines Menschen, bestehend aus etwa 3 Milliarden auf 23 Chromosomen verteilten Basenpaaren zu lesen und zu entschlüsseln. Gemessen an der Sequenziertechnik der damaligen Zeit war das ein gewaltiges Unterfangen. Ursprünglich war geplant, die Sequenzierung des menschlichen Genoms bis zum Jahr 2010 abzuschließen. Schon zu Beginn des Projekts beteiligten sich über 1000 Wissenschaftler in 40 Ländern an dieser Mammutaufgabe. Dank der laufenden Verbesserung der Sequenziertechnik kam das Projekt schneller voran als erwartet. Seit April 2003 gilt das menschliche Genom offiziell als vollständig entschlüsselt. 47 Weltweit soll das Projekt 6 Milliarden Dollar verschlungen haben, etwa doppelt so viel, wie ursprünglich veranschlagt.
Heute – knapp zehn Jahre später – ist es mit einer optimierten, auf Mikrochips basierenden Sequenziertechnik möglich, das komplette menschliche Genom innerhalb von 24 Stunden zu einem Preis von etwa 40
000 Euro zu entschlüsseln. 48 Die Kosten der DNA-Sequenzierung fallen weiter ins Bodenlose und werden vermutlich in drei Jahren für weniger als 1000 Euro zu haben sein.
Nicht nur das Genom
– also die Gesamtheit aller Gene einer Zelle – kann heute in unglaublich kurzer Zeit gelesen werden. Mit sogenannten Microarrays ist es auch möglich, sich innerhalb weniger Tage ein Bild davon zu verschaffen, welche Gene in der betreffenden Zelle gerade aktiv sind. Während die Krebsforscher noch vor 20 Jahren der Boten-RNA jedes Gens mühsam einzeln nachspüren mussten, können sie heute sämtliche rund 30
000 verschiedenen Boten-RNAs, also das gesamte Transkriptom einer Krebszelle, in einem einzigen Ansatz analysieren und mit dem der gesunden Zellen vergleichen.
Selbst vor der noch deutlich komplexeren Welt der Proteine macht die Analytik nicht Halt. Die parallele Analyse des kompletten Proteoms einer individuellen Krebszelle, also immerhin mehr als 100
000 verschiedene Eiweiße, kommt in die Reichweite moderner Proteinanalytik. Schon heute wäre es theoretisch möglich, bei jedem einzelnen Patienten nachzusehen, welche individuelle Kombination genetischer Veränderungen in seinen Tumorzellen vorliegt und wie sich diese Mutationen auf die molekulare Ausstattung dieser Zellen auswirken. Krebsforscher lieben kurze, griffige Anglizismen. Deshalb haben sie das ganze Spektrum dieser neuen Analysentechniken des Genoms, Transkriptoms und Proteoms unter dem flapsigen Oberbegriff OMICS zusammengefasst. OMICS meint die vollständige Inventarisierung der zellulären Ausstattung an DNA, Boten-RNA und Proteinen. In wenigen Jahren werden wir also die »gläserne Krebszelle« haben. Es wird dann nicht nur möglich, sondern vielleicht auch bezahlbar sein, die kompletten genetischen Texte der Krebszellen jedes einzelnen Patienten vor Therapiebeginn zu lesen.
Weit schwieriger ist es aber,
dieses Wissen in eine wirksame Behandlungsstrategie zu übersetzen. Im Ausblick auf eine fiktive Krebstherapie im Jahr 2050 wäre folgendes Szenario zumindest denkbar: Das klassische System der Einteilung der Krebskrankheiten nach ihren Ursprungszellen hat weitgehend an Bedeutung verloren. Es gibt keine Therapieschemata für Brustkrebs, Lungenkrebs oder Darmkrebs mehr. Die Auswahl der Krebsmedikamente erfolgtnicht mehr nach der Krebsform, sondern sie wird auf der Basis der genetischen Signatur jedes einzelnen Tumors getroffen. Vor einer Therapie wird ein Tumor auf der Ebene der Gene und ihrer Proteine bis ins kleinste molekulare Detail durchleuchtet. Mit Hilfe von Rechnern wird aus diesen ungeheuren Datenmengen eine detaillierte Landkarte der individuellen Architektur aller Signalwege der jeweiligen Krebszelle inklusive ihrer entscheidenden Webfehler rekonstruiert. Daraufhin wird ein Cocktail von zielgerichteten Medikamenten individuell zusammengestellt, der die wichtigsten Fehler in der molekularen Architektur der Krebszelle möglichst selektiv konterkarieren soll. 49 Ob diese Träumereien vom Reißbrett sich jemals in ein wirksames Therapiekonzept übersetzen lassen, steht in den Sternen. Die Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin sind gewaltig.
Paradoxerweise manifestieren sich in Krebszellen
die Findigkeit und die Flexibilität des Lebens selbst. Tumorzellen nehmen die Herausforderung an und nutzen auch noch das kleinste evolutionäre Schlupfloch, das ihnen eine Krebstherapie offen lässt.
Vielleicht sollten wir daher nicht nur
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