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KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

Titel: KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Bleif
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Koffer der Engel . Er enthielt mehr als ein halbes Dutzend kleiner Engelsfiguren unterschiedlichster Herkunft und Gestalt. Imogen war keineswegs abergläubisch. Trotzdem gibt es Situationen, in denen die Fangnetze der Vernunft nicht mehr fest genug sind, um einen geplagten Geist noch auffangen zu können. Diese Engel begleiteten Imogen seit ihren regelmäßigen Gängen in die Tagesklinik der Frauenklinik zu den roten Giften, damals im Frühsommer 2008.
    Dort, wohin wir heute unterwegs waren, war jede Unterstützung recht. Wir waren auf dem Weg in die Medizinische Universitätsklinik. Was anstand, war ein ziemlich verzweifelter Versuch, dem Krebs nochmals ein wenig Zeit abzuringen. Die Atempause über die Weihnachtstage war trügerisch gewesen. Immer wieder war der Spalt zwischen den Rippfellen mit Flüssigkeit vollgelaufen, immer wieder musste die Flüssigkeit abpunktiert werden, manchmal fast drei Liter, um den Lungen wieder Platz zum Atmen zu verschaffen. Es bestand kein Zweifel, der Krebs hatte in den letzten Wochen viel an Boden gewonnen.
    Die Chemotherapien vor und nach der Operation eingeschlossen, sollte jetzt der fünfte Versuch folgen, der Erkrankung noch einmal wenigstens für begrenzte Zeit Herr zu werden. Ich hatte mich mit Imogen nach Rücksprache mit den Kollegen in der medizinischen Klinik und einem befreundeten Brustkrebsspezialisten in der Schweiz auf eine Zweierkombination von Zytostatika geeinigt, von denen eines brandneu war und nach den Ergebnissen einer großen, aktuell auf einem amerikanischen Kongress vorgestellten Studie einen gewissen Anlass zur Hoffnung bot.
    Imogen war skeptisch. Sie gab mir klar zu verstehen, dass dieser Versuch ihr letzter sein würde. »Meinst du, dieses Zeug hilft mir noch? Oder kann ich jetzt nur noch auf ein Wunder hoffen?«
    Ich nahm sie in dem Arm.
    »Natürlich können wir an Wunder glauben, denn es gibt immer wieder Wunder.«
    Ich weiß nicht, wie überzeugend ich war. Vermutlich stiegen mir dabei Tränen in die Augen. Aber obwohl ich nach diesem Satz schmerzhaft schlucken musste, war meine kühne Behauptung wenigstens ein kleines bisschen mehr als nur eine gut gemeinte Notlüge.

Wunder unter Ockhams Messer
    Seither tauchten pro Jahr etwa 15–20 weitere Berichte über Spontanheilungen in der medizinischen Fachliteratur auf. Vermutlich ist das Phänomen sogar häufiger, als angesichts der publizierten Fälle zu vermuten ist. Wie oft werden austherapierte Patienten zum Sterben nach Hause entlassen, ohne dass ihre Ärzte etwas über ihr weiteres Schicksal erfahren? Höchstwahrscheinlich wurden viele Fälle nie publiziert und daher vom medizinischen Betrieb komplett übersehen.
    Seit über 16 Jahren arbeite ich als Radioonkologe.
In diesem Zeitraum wurden in der Tübinger Klinik für Radioonkologie knapp 35

000 Krebspatienten behandelt. Unter diesen 35

000 Geschichten kann ich mich an zwei Fälle erinnern, die den Kriterien einer Spontanheilung zumindest ziemlich nahe gekommen sind. Einer dieser Fälle war ein knapp 65-jähriger Mann mit einem großen, inoperablen Tumor im Rachenbereich. Nennen wir ihn Herrn S. Nach Abschluss der notwendigen Voruntersuchungen begann seine Therapie. Geplant war eine hochdosierte Bestrahlung des Tumors über einen Zeitraum von etwa sieben Wochen, begleitet von einer milden Form von Chemotherapie. Zunächst ging alles gut, aber schon wenige Tage nach Beginn der Behandlung entwickelte Herr S. eine schwere Lungenentzündung. Die Therapie musste abgebrochen werden; Herr S. wurde auf die Intensivstation verlegt. Mehrere Wochen musste er beatmet werden und lange Zeit schwebte er zwischen Leben und Tod. Langsam begann er sich von der Infektion zu erholen, aber als Folge der Langzeitbeatmung bildeten sich schwere Nervenschäden aus und es stellten sich Lähmungen ein, die Herrn S. vollständig ans Bett fesselten.
    Fast drei Monate nach Abbruch seiner Strahlentherapie erreichte mich eines Samstagmorgens ein Anruf. Die Kollegen von der Intensivmedizin baten mich nochmals auf ihre Station, um das weitere Vorgehen im Falle des Herrn S. zu beraten. Als ich dort ankam, fand ich Herrn S. wach und ansprechbar vor. Er hatte die Infektion überstanden und war nicht mehr beatmungspflichtig, so dass die Verlegung in ein heimatnahes Krankenhaus oder in eine Rehabilitationsklinik anstand. Herr S. schwebte nicht mehr in akuter Lebensgefahr, befand sich aber in einem derart schlechten Zustand, dass wir uns nach eingehender Beratung mit ihm und

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