KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
millionenfaches Kopieren fast nichts anzuhaben, obwohl – im Fall des Menschen – bei jeder Zellteilung 3 Milliarden Nukleotide abgeschrieben werden müssen.
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass ich im letzten Abschnitt das Wörtchen fast verwendet habe. Auf diesem kleinen Wörtchen fast beruht unsere Existenz. Und es ist auch für einige Probleme verantwortlich – namentlich für die Entstehung von Krebskrankheiten.
Wie komme ich zu dieser Behauptung? Unser Genom ist sehr stabil, und das Kopieren genetischer Texte funktioniert mit bewundernswerter Präzision. Trotzdem werden, wenn auch sehr selten, Fehler gemacht und einzelne Basen vertauscht, Gene verstümmelt, und manchmal verrutschen sogar ganze Genabschnitte im Text. Diese Kopierfehler werden Mutationen genannt.
Im letzten Abschnitt dieses Kapitels werde ich zeigen, warum es Vorteile haben kann, nur fast perfekt zu sein, aber auch, welche Probleme wir uns dadurch eingehandelt haben. Wir stoßen damit nämlich jetzt zu den Wurzeln der Krebserkrankung vor.
Mutationen im Genom von Einzellern oder in den Keimzellen von vielzelligen Organismen treffen in der Regel die Nachwelt. Werden sie auf lebensund fortpflanzungsfähige Individuen weitervererbt, sind sie für alle Zeiten im kollektiven genetischen Gedächtnis einer Art festgeschrieben. Geschehen solche Fehler in unseren eigenen Körperzellen, könnte es sein, dass wir selbst damit ein Problem bekommen.
Darwins Dilemma: Warum sind Gene nicht perfekt?
… gäbe es nicht die beste (optimum) aller möglichen Welten, dann hätte Gott überhaupt keine erschaffen (…) Wissen muss man, dass in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht: jedwedes Universum ist ein ganzes aus einem Stück, gleich dem Ozean; die geringste Bewegung breitet sich in beliebige Entfernung aus … 14 Für keine Passage in seinem Gesamtwerk hat der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz mehr Prügel bezogen als für die Behauptung, wir lebten »in der besten aller möglichen Welten«. Noch 100 Jahre nachdem Leibniz diese Sätze zu Papier gebracht hatte, klangen sie so befremdlich, dass Voltaire eine Satire auf Leibniz’ Theorie verfasste und in seinem Candide persiflierte. Leibniz selbst wird in der Gestalt des Pangloss karikiert, der stets bemüht ist, dem leichtgläubigen Candide zu versichern, auch die schlimmsten Katastrophen hätten ihren Sinn:
»›Alle Ereignisse sind miteinander verknüpft in der besten aller möglichen Welten; denn wärt Ihr schließlich nicht aus einem schönen Schloss mit derben Fußtritten in den Hintern davongejagt worden, der Liebe zu Fräulein Kunigunde wegen, wärt Ihr nicht der Inquisition in die Hände gefallen […], dann würdet Ihr hier keine eingemachten Cedren und Pistazien essen.‹ – ›Das ist wohl gesprochen‹, antwortete Candide, ›aber wir müssen unseren Garten bestellen.‹« 15
Einem krebskranken Menschen muss Leibniz’ Idee doppelt absurd und nachgerade zynisch vorkommen. Aber sein Gedankengang war tiefgründiger als Voltaire ahnte. Leibniz war überzeugt, dass die Welt, ihre Phänomene und Bewohner, so beschaffen sind, dass sie keine willkürlichen oder beliebigen Zustandsformen annehmen können, weil sie sich in Systemen gegenseitiger Wechselwirkungen und Abhängigkeiten bewegen oder auch selbst solche Systeme sind. Alle Wesen und Dinge dieser Welt unterliegen unverrückbaren und allgemeingültigen Spielregeln. Daher stehen ihnen nur ein begrenzter Spielraum möglicher Realisationen, Zustandsformen und Beziehungen zueinander zur Verfügung. Dieses Weltverständnis als ein System wechselseitiger Abhängigkeiten belegt er mit dem Begriff Kontingenz.
Was hat das mit Krebs zu tun?
Die Gesetze der Physik, Chemie oder Biologie sind nichts anderes als eine modernere und spezifischere Formulierung der Kontingenzidee. Alle Naturwissenschaften beruhen auf so etwas wie einer Wette. Sie behaupten, es gäbe Naturgesetze, die allgemeingültig seien, keine Ausnahmen zuließen und im gesamten Universum an jedem Ort und zu jeder Zeit gälten. Diese Gesetze unterwerfen alle Vorgänge, Systeme, Maschinen und natürlich auch Lebewesen ganz bestimmten Spielregeln. Einfache Beispiele für solche Spielregeln sind die Gleichungen der Newtonschen Mechanik wie: Arbeit = Kraft × Weg oder Masse = Dichte × Volumen oder Impuls = Masse × Geschwindigkeit .
Solche Gesetze setzen der Konstruktion von Maschinen, etwa eines Automobils, ganz bestimmte Grenzen. Ein Konstrukteur
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