KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
diesem Zeitpunkt an liefen die Interessen von Zelle und Individuum auseinander. Da jetzt der komplette Organismus und nicht mehr die einzelne Zelle das Objekt der Selektion war, hing das Schicksal aller Beteiligten auf Gedeih und Verderb am Erfolg des großen Kollektivs, des Organismus.
Die meisten vielzelligen Organismen vermehren sich sexuell. Sie entstehenaus der Verschmelzung der Ei- und der Spermienzelle zur befruchteten Eizelle, der Zygote. In erstaunlich kurzer Zeit entwickelt sich daraus ein differenzierter Organismus mit Tausenden, Millionen oder auch vielen Milliarden Zellen. 17 Zu Beginn der Ontogenese, der Entwicklung dieses neuen Organismus, sind alle Zellen Generalisten. Diese potentiellen Alleskönner nennen die Biologen totipotente Stammzellen. Der Organismus entsteht durch Differenzierung dieser Stammzellen in unterschiedlichste Zelltypen mit jeweils eigenen Spezialaufgaben.
Alle Zellen eines Körpers
teilen sich dasselbe Erbgut. Die verschiedenartige Struktur und die unterschiedlichen Fähigkeiten der einzelnen Zelltypen resultieren aus dem Muster der aktuell aktiven Gene. Diese produzieren die Eiweiße, die Zellteilung, Differenzierung und Spezialisierung steuern. 18 Im Rahmen der Differenzierung und Spezialisierung sind manche Gene nur während bestimmter Phasen der Embryonalentwicklung aktiv und werden dann stillgelegt, andere wiederum erwachen erst bei spezialisierten Zellen zu vollem Leben. Wenn Zellen sich zu roten Blutkörperchen entwickeln, produzieren sie plötzlich massenweise Hämoglobin, das Eiweiß, das den Sauerstoff im Blut transportiert und dem Blut seine tiefrote Farbe verleiht. Im Stammzellpool, aus dem sich die roten Blutzellen entwickeln, ist das Hämoglobin-Gen dagegen abgeschaltet. Im fertigen Organismus haben manche Zelltypen wie Leberzellen oder Nervenzellen die Fähigkeit zur Zellteilung (Mitose) verloren. Man nennt sie daher postmitotisch. Dieser Verlust der Zellteilungsfähigkeit beruht ebenfalls darauf, dass die entsprechenden Gene abgeschaltet wurden und nicht mehr abgelesen werden. 19
Entscheidend für uns ist ein anderes Problem. Durch das Leben im Verbund wird eine Zelle mit vollkommen neuen Aufgaben und Problemen konfrontiert. Jetzt sind Zellen der Metazoen keine Generalisten mehr, sondern auf bestimmte Aufgaben konzentriert. Je nachdem, welche ihrer Gene aktiv sind, dienen sie dem Organismus als Muskel-, Nerven-, Nieren- oder Leberzellen. Ähnlich wie die Mitglieder in einer komplexen arbeitsteiligen Gesellschaft haben sie die Fähigkeit verloren, auf sich allein gestellt zu überleben. Der Preis der Spezialisierung ist der Zwang zur Zusammenarbeit. Daher müssen sich die Zellen eines vielzelligen Organismus – ganz anders als die Einzeller – in Bescheidenheit, Demut und Kooperationsfähigkeit üben.
Bei den Metazoen steht nicht mehr die individuelle Fitness der Zelle, sondern die Fitness des Organismus an oberster Stelle. Zellen in vielzelligen Organismensind bedingungslose Altruisten. Im Laufe der letzten 600 Millionen Jahre hat die Evolution eine präzis arbeitende und fein justierte biochemische »Fabrik« herausselektiert, die über vielgestaltige Strategien zur Kontrolle des Zellzyklus und zur Begrenzung der Zellteilung verfügt.
Solange Zellen sich teilen, durchlaufen sie einen ganz bestimmten Zellzyklus. Dieser Lebenszyklus einer Zelle beginnt und endet mit der Zellteilung, der Mitose. Der Teilungsprozess selbst wird daher auch M-Phase 20 genannt. Die M-Phase ist sehr kurz. Sie dauert bei menschlichen Zellen kaum mehr als 30 bis 60 Minuten.
Zwischen den Teilungen liegt das Leben einer Zelle, die sogenannte Interphase. Die Zelle muss in dieser Zeit einige interne Angelegenheiten regeln, bevor sie sich erneut teilen kann. Die Interphase ist in mindestens drei, meistens jedoch vier Abschnitte gegliedert: Nach der Mitose beginnt die G 1 -Phase. In diesem ersten Lebensabschnitt wächst die Zelle wieder zu ursprünglicher Größe heran und ergänzt ihren Bestand an Zellorganellen. Am Ende der G 1 -Phase werden bereits Vorräte für die nächste Phase angelegt. In dieser Zeit werden vor allem Histone produziert. Diese Eiweiße verpacken und stabilisieren die DNA im Zellkern. Außerdem stockt die Zelle kurz vor Eintritt in die nächste Phase des Zellzyklus ihren Bestand an Enzymen wie DNA-Polymerasen und Ligasen auf, die sie zum Kopieren ihres genetischen Materials benötigt. Sie deckt sich in dieser Phase auch mit einem ausreichenden Vorrat an
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