KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
spezialisiert. Bei einer Immunantwort reagiert daher fast nie das gesamte System inklusive aller seiner Komponenten und zellulären Mitspieler. Schon deshalb ist die Rede von der Stärkung des Immunsystems problematisch.
Wie funktioniert das Immunsystem?
Das war ein erster Blick aus der Vogelperspektive. Schauen wir uns das Ganze jetzt näher an. So komplex die räumliche Organisation ist und so vielfältig die möglichen Gegner des Immunsystems sind, seine Aufgabe lässt sich auf ein Zwei-Komponenten-Problem reduzieren: Zunächst muss Fremdes als fremd erkannt und vom eigenen Körper unterschieden werden. Ist der Gegner erkannt, muss der zweite Schritt folgen: Das System muss reagieren, die weitere Vermehrung des Eindringlings stoppen und ihn schließlich – wenn möglich – endgültig aus dem Körper hinauswerfen. Eine erfolgreiche Aktion besteht immer aus der Kombination beider Komponenten. Die Immunabwehr kann versagen, weil der Gegner zu gut getarnt ist, weil die Effektor-Reaktion zu schwach ist oder weil der Gegner seinen Rauswurf aktiv unterbinden kann.
Die zweite Linie der Verteidigung und das Gedächtnis
Die MHC-Moleküle sind nicht nur der Ausweis einer Zelle, sie verraten auch einiges darüber, was sich in ihrem Inneren abspielt. In einer Zelle werden Eiweiße beständig hergestellt und wieder abgebaut. Die Bausteine dieser Eiweiße werden zum großen Teil recycelt. Ein Teil der Bruchstücke, zwischen 7 und 15 Aminosäuren lang, wird dabei nach außen transportiert, dort passgenau in eine Vertiefung im MHC-Komplex eingebunden und so der extrazellulären Welt präsentiert. Wenn plötzlich ungewöhnliche oder gar körperfremde Eiweiße im Zellinneren produziert werden, bleibt das nicht unbemerkt. Das Immunsystem hat also eine Chance, auch das zu erkennen, was sich tief im Innern der Zellen abspielt.
Im 1. Kapitel habe ich erklärt, dass Viren parasitäre Mikroorganismen sind, die sich nur mit Hilfe des fremden Vervielfältigungsapparats in einer Wirtszelle vermehren können. Das bedeutet, sie verschwinden bei einer Infektionmöglichst rasch in den Wirtszellen. Zwangsläufig tauchen aber Spuren der Virusproteine in Form kleiner Bruchstücke (Peptide) an der Oberfläche befallener Zellen auf. Der MHC-Komplex ist ihr Präsentierteller. Diese Spuren sind allerdings viel subtiler und auch vielfältiger als die der oben zitierten PAMPs.
Die Bausteine von Peptiden, die Aminosäuren
, sind bei allen Lebewesen unseres Globus identisch. Was als fremd erkannt werden kann, ist lediglich eine untypische, körperfremde Sequenz der Aminosäuren in der kleinen Kette, die im MHC-Komplex eingebettet ist. Diese Sequenz wirkt auf das Immunsystem wie ein Wort aus einer anderen Sprache, aber mit bekanntem Alphabet. Da das Alphabet der Proteine aus 20 unterschiedlichen Aminosäuren besteht, sind selbst bei Peptiden, die aus nur sieben Aminosäuren bestehen, immerhin 1
280
000
000 unterschiedliche Peptid-Wörter möglich. Die Kombination von neun Aminosäuren erlaubt schon 500 Milliarden verschiedene Möglichkeiten. Obwohl ein menschlicher Körper mehrere hunderttausend verschiedener Eiweiße produziert, ist also in einem einzelnen Individuum nur ein kleiner Teil dieser möglichen Peptidkombinationen realisiert. Unser Immunsystem ist tatsächlich in der Lage, fast alle Wörter zu erkennen, die nicht aus der individuellen Eiweiß-Bibliothek des betroffenen Individuums stammen.
Der angeborene Teil des Immunsystems ist entwicklungsgeschichtlich uralt.
Seine etwa 1000 Rezeptoren sind im Laufe der Stammesentwicklung über viele Generationen als evolutionäre Anpassung an die Konfrontation mit den oben zitierten PAMPs entstanden. Dieser Teil des Immunsystems wird als angeboren bezeichnet, weil die genetischen Baupläne für diese Rezeptoren im Genom fertig angelegt und bei Geburt eines Individuums sofort abrufbar sind. Dieses naturgemäß begrenzte Repertoire wäre mit der Erkennung der subtilen Unterschiede zwischen einigen hunderttausend eigenen und den Millionen fremden Eiweißen, die potentiell in einen Körper eindringen können, heillos überfordert. Die Zahl der möglichen Permutationen ist viel zu groß, als dass diese Peptide von der sehr begrenzten Anzahl der genetisch präformierten Rezeptoren des angeborenen Immunsystems unterschieden werden könnten.
Das ewige evolutionäre Wettrennen
zwischen Angreifer und Verteidiger – Mikroorganismus und Wirtstier – hat ein zweites, weit raffinierteres
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