KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
knapp 140 Jahre zuvor aus eitrigen Verbänden die seltsamen, riesigen Moleküle isoliert hatte, in denen jetzt der Keim aller unserer Probleme zu stecken schien.
Ich legte meinen Kopf auf ihre Beine. »Erinnerst du dich an die Geschichte mit der Krebsbiographie und den Abzweigungen, damals vor vier Wochen, nachts auf unserm Balkon? Vielleicht wehrt sich der Körper ja ständig. Vielleicht wirft er grade jetzt wieder ein paar tausend Krebszellen raus. Es kann sein, dass wir ständig Krebszellen oder Vorläufer von Krebszellen produzieren, die das Immunsystem entdeckt und erledigt. Es kann auch sein, dass in dir oder mir schon viele solche Zellen entstanden sind, die nie die Chance hatten, zum Problem zu werden, weil sie rechtzeitig erwischt worden sind. Zumindest gibt es ein paar Immunologen, die so etwas glauben. Schließlichist das Immunsystem ja sonst ziemlich gut darin, Eindringlinge zu entdecken und zu vernichten.«
Imogen war skeptisch: »Trotzdem scheine ich offensichtlich ein Problem zu haben.«
Ich setzte mich auf und klopfte an die Steine der Burgmauer: »Schau dir den Turm hier an, ein solider Quader mit dicken Steinmauern, fast 15 Meter hoch, auf drei Seiten ein Graben. Wer in früheren Zeiten gegen dieses Bollwerk anrennen musste, konnte einem nur leid tun. Aber unten im Burggraben gibt es eine kleine eisenbeschlagene Tür, die von innen von einem mächtigen Eichenriegel verschlossen wird. Irgendwann einmal vor Jahren, als die Keller noch nicht renoviert waren, hab’ ich entdeckt, dass man nur eine schmale Eisenstange durch den Türspalt stecken muss und damit den Riegel leicht nach oben aus seiner Verankerung heben kann. Schon waren wir drin, um nächtliche Feste zu feiern und bei Rotwein und Kerzenlicht Gespenstergeschichten zu lesen – die mächtigste Wehranlage der Burg, ausgetrickst durch ein paar Jugendliche, die unerkannt durchs Hintertürchen geschlüpft sind.
Manchmal hat das Immunsystem offenbar ähnliche Probleme. Die Zellen, die da zum Krebs herangewachsen sind, gehen der Konfrontation vielleicht einfach aus dem Weg. Sie sind vermutlich gewachsen, weil sie’s geschafft haben, unerkannt zu bleiben.«
Imogen runzelte die Stirn. »Das macht’s für mich ja nicht gerade einfacher. Mir würde jedenfalls der Gedanke besser gefallen, dass sich der Krebs in mir nicht wie auf einem gedüngten Acker fühlt. Ich fände es schön, wenn mein Körper Mittel und Wege hätte, den Krebs auch mal zu ärgern und ihm ab und an ein bisschen das Wasser abzudrehen – kommt so etwas denn überhaupt nicht vor?«
• • •
Bisher bewegten wir uns auf verhältnismäßig festem Boden. Die Krebsforschung hat in den letzten 150 Jahren unzählige Steinchen der Erkenntnis zusammengetragen. Inzwischen ist daraus ein relativ fest gefügtes Pflaster des Wissens entstanden, ein recht gut erkennbares Mosaik, das wir aber jetzt allmählich hinter uns lassen, denn der Boden beginnt langsam nachzugeben – wir wandern in den nächsten beiden Kapiteln eher auf sumpfigen Marschland weiter. Hier und dort zeichnen sich auch im diesem Sumpf der Unkenntniserste Wege und Stege ab, aber über weiten Teilen des Gebiets liegen die Nebel der Spekulation.
Im Folgenden geht es um die Frage, ob unser Körper über Mittel verfügt, sich gegen entstehende oder bereits entstandene Krebszellen zur Wehr zu setzen. Ist der Körper nur passive Bühne des Geschehens, das Schlachtfeld – oder hat er Möglichkeiten, einzugreifen und die zellulären Egoisten aus eigener Kraft wieder loszuwerden?
Auch die aggressivste Tumorzelle muss noch, wie ich im 3. Kapitel gezeigt habe, rudimentäre Beziehungen zu ihrer Umgebung pflegen. Dadurch entstehen Abhängigkeiten. Sie erlauben dem Körper, passiven Widerstand zu leisten. Der menschliche Organismus ist, wie wir aus immer neuen Blickwinkeln erfahren, komplex, vielzellig und verfügt aber auch über ein Instrumentarium, das in Jahrmillionen perfektioniert wurde, sich ungebetener Gäste aktiv zu entledigen: das Immunsystem. Kann das, was uns mit großem Erfolg gegen Eindringlinge von außen schützt, nicht auch gegen Verräter in den eigenen Reihen in Stellung gebracht werden?
Was ist das Immunsystem?
Das Immunsystem sorgt dafür, dass wir Herr im eigenen Haus bleiben. Es soll verhindern, dass sich fremde, potentiell schädliche Organismen im unserem Körper einnisten und ausbreiten. Im weitesten Sinn gehören also alle Komponenten des Körpers zum Immunsystem, die potentiellen Eindringlingen wie
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