Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
aufgewühlt er war, und bemühte sich, ihm möglichst freundlich und
ernsthaft zu antworten.«Die wahre Liebe … Wenn Mann und Frau durch wahre Liebe verbunden sind, dann ist eine Ehe möglich.»
«Ja, aber was heißt das, wahre Liebe?», sagte der Herr mit den glänzenden Augen schüchtern und lächelte verlegen.
«Was Liebe ist, weiß doch jeder», sagte die Dame, die das Gespräch mit ihm offenbar zu beenden wünschte.
«Ich weiß es nicht», sagte der Herr.«Das muss man erst definieren, was Sie darunter …»
«Nun, ganz einfach», sagte die Dame, wurde dann aber nachdenklich.«Die Liebe? Die Liebe, das ist, wenn man eine oder einen Einzelnen allen anderen Menschen vorzieht.»
«Vorzieht – für wie lange? Einen Monat? Zwei Tage, eine halbe Stunde?»Der grauhaarige Herr lachte.
«Erlauben Sie, mir scheint, Sie sprechen von etwas anderem.»
«Nein, mit Verlaub, ich spreche genau davon. »
«Die Dame meint», schaltete der Anwalt sich ein,«dass die Ehe erstens aus einer Neigung hervorgehen soll, aus Liebe, wenn Sie so wollen, und nur wenn eine solche vorhanden ist, stellt die Ehe etwas Heiliges dar. Und dass zweitens
eine Ehe, die nicht auf einer natürlichen Neigung basiert – auf Liebe, wenn Sie so wollen -, nichts moralisch Verbindliches an sich hat. Verstehe ich es richtig?», wandte er sich an die Dame.
Sie deutete mit einer Kopfbewegung an, dass sie mit der Erläuterung ihres Gedankens einverstanden war.
«Des Weiteren …», fuhr der Anwalt fort, doch der nervöse Herr, dessen Augen inzwischen lichterloh brannten, hatte sich offensichtlich nur mühsam zurückgehalten und fiel dem Anwalt nun ins Wort:«Nein, eben davon spreche ich auch, dass man eine oder einen Einzelnen allen anderen vorzieht, ich frage nur: für wie lange?»
«Für wie lange? Nun, lange, manchmal ein Leben lang», sagte die Dame achselzuckend.
«Aber das gibt es doch nur in Romanen, nicht im Leben. Im Leben dauert diese Bevorzugung eines Einzelnen vielleicht ein paar Jahre, und auch das ist selten, häufiger sind es Monate oder auch Wochen, Tage, Stunden», sagte er, und das Erstaunen, das er mit seiner Auffassung erregte, war ihm offensichtlich bewusst und durchaus willkommen.
«Wie können Sie! Aber nein! Erlauben Sie», begannen wir alle drei gleichzeitig. Sogar der
Kommis gab einen missbilligenden Laut von sich.
«Ja, ich weiß», übertönte uns der grauhaarige Herr,«die Herrschaften sprechen von etwas, wovon man annimmt, dass es existiert, ich hingegen spreche von dem, was ist. Das, was Sie Liebe nennen, empfindet jeder Mann für jede schöne Frau.»
«Das ist ja grässlich, was Sie da sagen! Aber es gibt doch dieses Gefühl zwischen Menschen, das man Liebe nennt und das einem nicht nur für Monate oder Jahre, sondern für ein ganzes Leben geschenkt wird?»
«Nein. Selbst angenommen, ein Mann würde sein Leben lang eine bestimmte Frau vorziehen, dann würde die Frau aller Wahrscheinlichkeit nach einen anderen vorziehen – so ist die Welt, und so war sie schon immer», sagte er, holte ein Zigarettenetui hervor und zündete sich eine Zigarette an.
«Und doch gibt es auch eine Gegenseitigkeit der Gefühle», sagte der Anwalt.
«Nein, die gibt es nicht», widersprach er,«genauso wenig, wie zwei gekennzeichnete Erbsen in einer ganzen Fuhre Erbsen nebeneinander zu liegen kommen können. Und abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit, kommt hier auch noch
die Übersättigung ins Spiel. Sein Leben lang eine Einzige oder einen Einzigen lieben – ebenso gut könnte man behaupten, dass eine einzige Kerze ein Leben lang brennt», sagte er und sog gierig den Rauch ein.
«Aber Sie sprechen die ganze Zeit nur von der körperlichen Liebe. Glauben Sie etwa nicht, dass es auch eine Liebe gibt, die auf gemeinsamen Idealen beruht, auf einer geistigen Verwandtschaft? », fragte die Dame.
«Geistige Verwandtschaft! Gemeinsame Ideale! », wiederholte er und machte sein charakteristisches Geräusch.«Dann gibt es aber keinen Grund, pardon, zusammen zu schlafen. Wie die Dinge liegen, gehen die Leute nämlich miteinander ins Bett wegen ihrer gemeinsamen Ideale», sagte er und lachte nervös.
«Erlauben Sie», sagte der Anwalt,«aber die Fakten sprechen gegen Ihre Auffassung. Wir sehen, dass die Ehe existiert, dass sie von der gesamten Menschheit oder deren größtem Teil praktiziert wird und dass viele Menschen ein langes, treues Eheleben führen.»
Wieder lachte der grauhaarige Herr auf.«Erst sagen Sie, dass die Ehe auf der Liebe
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