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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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noch den kleinen Juscha. Das wahre, ernste Leben verlangte sein Recht, und Anna verscheuchte die quälenden Gedanken, um sich wieder auf die von Sorgen, Rastlosigkeit und Liebe erfüllte Kinderwelt zu konzentrieren.
    Sobald sie ihren Mann verabschiedet hatte, rief sie die Kinder zum Unterricht. Manja und ihr älterer Bruder, der hübsche Pawlik, waren im Garten. Sie brachten mit Eicheln gefüllte Körbe und berichteten aufgeregt, dass sie in einer Baumhöhle junge Eichhörnchen entdeckt hätten. Doch als sie ihre Mutter ansahen, waren sie betroffen von deren trauriger Miene und legten artig ihre Bücher und Hefte bereit. Der Unterricht dauerte eine Stunde, und noch bevor Anna das Korrigieren der Hefte beendet hatte, kam die Gehilfin der Kinderfrau angelaufen und holte sie zum Stillen des Kleinen ins Kinderzimmer.
    Allein geblieben, begannen die Kinder um den Tisch herumzulaufen. Der Weg zum Kinderzimmer führte Anna an dem großen Spiegel im Salon vorbei, und sie warf einen Blick hinein.«O Gott, wie sehe ich aus! Diese weite alte Bluse, das Haar zerzaust! Ich muss an meine Kleidung denken und etwas Schönes aus Moskau bestellen! Gestern hat mein Mann so abfällig davon
gesprochen, dass ich mein Äußeres völlig vernachlässige und sehr ‹heruntergekommen› sei. Wozu soll ich mich hier herausputzen? Das ist lästig, und die Zeit habe ich auch nicht dafür. Doch offenbar ist es nötig!», überlegte sie seufzend.
    Aus dem Kinderzimmer drang bereits das ungeduldige Geschrei des Säuglings. Anna legte einen Schritt zu und knöpfte noch im Gehen ihre Bluse auf.«Aber, aber, mein Würmchen, wer wird denn so schreien … Ich bin ja schon da», sagte sie, als die Kinderfrau ihr Juschka übergab. Er verstummte, und bald ließen sich ungeduldige Saug- und hastige Schlucklaute vernehmen. Anna ließ ihren matten Blick durch das Kinderzimmer schweifen, diesen vertrauten, ruhigen Zufluchtsort, wo alle ihre Kinder aufgewachsen waren, wo sie so viel Freude und Sorge erlebt hatte, wo sie, das Kind im Arm, nachts gesessen und oft ihre Tränen weggewischt hatte, wenn sie daran dachte, wie unerwartet gleichgültig ihr Mann sich den Kindern gegenüber verhielt.
    Sie erinnerte sich auch der Nächte, in denen sie nach stundenlangem Auf-und-ab-Gehen, um das kranke Kind zu beruhigen, zerschlagen ins Schlafzimmer gekommen war, wo ihr Mann sie, ohne ihre Müdigkeit und Kümmernis zu bemerken,
in seine Arme geschlossen und leidenschaftlich, ja mit animalischer Begierde die Erwiderung seiner Gefühle verlangt hatte, und wie sie, körperlich und moralisch erschöpft und verletzt durch seine Gleichgültigkeit, sich lautlos weinend seinem Willen unterwarf, aus Furcht, die Liebe des Mannes zu verlieren, dem sie ihr Leben anvertraut hatte.
    «Sollte denn nur darin unsere weibliche Berufung bestehen», dachte Anna,«vom körperlichen Dienst für den Säugling zum körperlichen Dienst für den Mann überzugehen? Und das abwechselnd – immerfort! Wo bleibt denn mein Leben? Wo bleibe ich? Ich, die einmal nach Höherem gestrebt hat, dem Dienst an Gott und den Idealen? Müde und zerquält, verlösche ich. Ein eigenes Leben gibt es für mich nicht, weder ein irdisches noch ein geistiges. Dabei hat mir Gott doch alles gegeben: Gesundheit und Kraft und Fähigkeiten … und sogar Glück. Weshalb nur bin ich so unglücklich?»
    Anna hob das zur Faust geballte Händchen des schlafenden Kleinen hoch und küsste es. Aufgeregt begann er wieder mit dem Mündchen nach ihrer Brust zu haschen, doch sie stand auf, wiegte ihn leicht in ihren Armen, legte ihn ins Bettchen und ging zu den älteren Kindern. Beide
saßen unter dem Schreibtisch, hatten das Papier aus dem Korb über den ganzen Fußboden verstreut, suchten nach Kuverts und rissen die Briefmarken heraus.
    «Ich lege mir eine Sammlung mit lauter ausländischen Marken an», sagte Pawlik.
    «Und ich habe eine ägyptische, Papa hat sie mir gegeben.»
    «Was soll denn das? So etwas zu veranstalten!», sagte die eintretende Anna.«Habt ihr euch schon angesehen, was ihr geschrieben habt?»
    «Nein.»
    «Was macht ihr dann hier? Musik haben wir auch noch. Räumt schnell auf.»
    Die Kinder beeilten sich, dem nachzukommen. Vom Salon her war ein Knall zu hören, dann schreckliches Kindergeschrei. Anna stürzte hinüber und fand die fünfjährige Anja schreiend in den Armen der Engländerin.
    «Wo hat sie sich gestoßen?», wollte sie wissen.
    «It is nothing» , erwiderte die Engländerin.
    Anna packte das Mädchen

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