Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
viele Jahre sogar, und auch jetzt zieht es mich überhaupt nicht nach Moskau. Doch es wird Zeit fürs Abendessen, Sie essen ja zeitig zu Mittag, und ich lasse Sie nicht ohne eine Stärkung weg.»Anna klingelte und ließ das Abendessen anrichten.
Im Speisezimmer war es gemütlich, hell und schön wie im ganzen Haus. Anna setzte sich mit
Bechmetew an ein blumengeschmücktes Tischchen, auf dem die kalte Abendmahlzeit serviert war. Sie unterhielten sich über das soeben Gelesene; am Hauseingang stand Bechmetews Kutsche, Glöckchen klingelten.
Eine zweite Kutsche näherte sich dem Haus, ihr Glöckchenklang mischte sich mit dem anderen, jemand kam herein. Anna und ihr Gesprächspartner überhörten all das und bemerkten auch nicht, wie der Fürst ins Zimmer trat.
Anna sprang erschrocken auf und fragte:«Ist etwas passiert?»
«Nein, nichts, ich hatte bloß keine Lust mehr zum Jagen», sagte der Fürst.«Grüß dich, Dmitri, und adieu. Entschuldige, ich bin sehr müde», fügte er hinzu, wobei er seiner Frau einen zornigen Blick zuwarf und seinem Freund die Fingerspitzen reichte.
«Zu Abend essen willst du nicht?», fragte Anna.
«Nein, ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.»
Der Fürst ging, während Bechmetew sich von Anna verabschiedete und losfuhr.
Anna lief zu ihrem Mann, dessen Unruhe ihr nicht entgangen war. Er saß in seinem Arbeitszimmer auf dem Diwan und rauchte. Da sie den
Grund ahnte und seinen eifersüchtigen Charakter kannte, setzte sie sich zu ihm, um ihn mit unnatürlicher Stimme zu befragen, was ihn zur Rückkehr bewogen hatte.
«Was schon – ich habe es doch gewusst, dass du wieder dieses Tête-à-tête arrangieren würdest. Begreifst du denn immer noch nicht, was sich nicht schickt?»
«Ich habe ihn nicht hergeholt, aber ich konnte ihn auch nicht davonjagen.»
«Du musstest ja nicht mit ihm kokettieren. Meinst du, ich sehe es nicht?»
«Kokettieren? Ich? Nun ist es aber gut, mein Freund. Dass du dich nicht schämst, so zu reden. Wenn du wüsstest, welche Sehnsucht ich habe, wenn du nicht da bist, und wie froh ich bin, dass du zurückgekommen bist. Lassen wir den Streit, bitte!»
«Gewiss hat sie sich schuldig gemacht», dachte der Fürst bei sich.«Warum bist du so erschrocken, als ich eintrat?», wollte er wissen.«Was hat er zu dir gesagt?»Er erboste sich immer mehr.
«Wirklich, ich weiß es nicht mehr», sagte Anna, die der Ton ihres Mannes ängstigte und sein wutverzerrtes Gesicht bereits ärgerlich machte.«Wir haben Lamartine gelesen und über ihn gesprochen …»
«Und euch dabei mit poetischen Gefühlen befasst …», sagte der Fürst ironisch.«Ich glaube dir kein Wort. Du bist nicht in der Lage, mir zu erzählen, was ihr gemacht und worüber ihr gesprochen habt?», schrie er. Er packte Annas Hand und presste sie, als plötzlich die Kinderfrau an die Tür klopfte und Anna zu dem Kleinen rief.
Erregt und gekränkt riss sich Anna los und lief in das Kinderzimmer. Der Kleine schrie ungeduldig.
«Diese Egoisten von Männern!», dachte Anna entrüstet.«Ihn plagt die Eifersucht, während ich allein zu Hause sitzen und mich sehnen kann, jetzt wird der Kleine sich noch an meiner erregten Milch satt trinken und die ganze Nacht nicht schlafen! Und ich darf mich quälen!»
Sie konnte sich nicht beruhigen. Ihre Empörung, ihre Verachtung gegen den, den sie so sehr zu lieben versucht hatte und mit dem ihr Leben verbunden war, wollten sich einfach nicht legen.«Nichts und niemanden braucht er: weder die Kinder noch mich. Nichts an unserem Leben interessiert ihn. Mich braucht er nur als Gegenstand. Und dass bloß seine Eigenliebe nicht verletzt wird! Ja, ich bin seine Frau! Wage keiner, mit ihr auch nur ein Wort zu wechseln …»Annas Verdruss wuchs immer mehr.«Wenn er aber
selbst mit jemandem liebäugelt, dann ist nichts dabei. Mein Gott, mein Gott!»Das Selbstmitleid trieb ihr Tränen in die Augen.
Der Kleine verschluckte sich und fing an zu weinen. Anna erschrak, drehte ihn auf die Seite und flüsterte unter heißen Küssen:«Mein Süßer, mein Süßer, beruhige dich.»
Sie betrachtete aufmerksam das kleine Gesicht ihres schlafenden Söhnchens und sagte in Gedanken zu ihm:«Nicht um deines Vaters willen, der mich gekränkt hat, sondern deinethalben, mein Würmchen, werde ich niemals etwas tun, weswegen du dich deiner Mutter schämen müsstest.»
Nachdem sie den Kleinen gestillt hatte, ging Anna in allen Zimmern die Bettchen ihrer schlafenden Kinder ab. Sie bekreuzigte sie
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