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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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alle der Reihe nach und blieb am letzten stehen, um zu beten. Alles ringsum schlief. Sie stand lange mit gesenktem Kopf bei dem Kind, konzentriert und ernst.
    Gäbe es in der Alltäglichkeit unseres Erdendaseins nicht diese Minuten der strengen Einkehr, der unnachsichtigen und konzentrierten Aufmerksamkeit für unser Innenleben, dieser Auge in Auge erfolgenden Prüfung unseres Ichs vor Gott, wie wäre unsere Existenz dann möglich?

    Anna bedeuteten diese Minuten viel; beruhigt ging sie in ihr Schlafzimmer.
    Als ihr Mann eintrat, schlug er einen versöhnlichen Ton an. Er näherte sich ihr, lächelte und umarmte sie wortlos.
    Anna nahm seinen Versöhnungsversuch gelassen und gleichgültig hin; sie fühlte sich in diesem Augenblick geistig so einsam, dem, worum es ihm ging, so fern, dass sie, als er sie in seine Arme schloss, nicht sofort begriff, was er wollte. Erst als sie erkannte, warum er sich so schnell versöhnt hatte, wurde er ihr plötzlich zuwider. Sie löste seine Hände und rief:«Nein, ich kann nicht, um keinen Preis!»
    Alles an dem Fürsten erschien ihr jetzt unangenehm: Sein schönes Gesicht kam ihr grob und dumm vor; seine vergilbten Zähne, seine ergrauten Haare, seine leidenschaftlichen Augen – alles stieß sie ab.
    Sie legte sich hin, löschte die Kerzen, drehte sich zur Wand und tat, als schliefe sie. Nachdem sie hastig und unkonzentriert für sich das Vaterunser gebetet, nachdem sie es noch einmal und noch einmal wiederholt hatte, um es bewusster zu sprechen, bekreuzigte sie sich und sank, seelisch ermattet, in einen unruhigen Schlaf.
    Die aufgeloderte Eifersucht des Fürsten verging
bald wieder. Er schrieb selbst einen Brief an seinen Freund, um ihn zum Essen einzuladen, und als Bechmetew seine Besuche bei ihnen wiederaufnahm, hatte sich der Fürst in Bezug auf seine Frau völlig beruhigt. Das abgeklärte, hochsinnige Verhalten seines Freundes hätte niemandem Anlass zu irgendwelchen Verdächtigungen gegeben. Seine ritterliche, lautere Höflichkeit, die Ehrerbietung, mit der er Anna begegnete, waren nicht dazu angetan, bei ihrem Mann üble Eifersucht zu wecken.
    Unterdessen fand Bechmetew unmerklich Zugang zu Annas Familien- und Innenleben. Er ging mit ihr und den Kindern spazieren, spielte und beschäftigte sich mit ihnen – bald erzählte er ihnen interessante Geschichten, bald malte er mit ihnen. Manchmal regte er sie zum Singen oder Tanzen an und gewann ihre Sympathie in einem Maße, dass sie Sehnsucht nach ihm hatten, wenn er längere Zeit ausblieb.
    Was Anna betraf, so hatte sie sich nie so glücklich gefühlt und ihr Leben als so erfüllt empfunden. Mehr und mehr umgab sie eine Atmosphäre der Liebe. Weder zärtliche Worte noch grobe Liebkosungen gab es, nichts, wovon die Liebe üblicherweise begleitet ist, doch alles ringsum atmete Zärtlichkeit, alles war Zuneigung und
Glück in ihrem Leben. Sie hatte beständig das Gefühl, dass ein teilnahmsvolles Auge ihr ganzes Leben beobachtete, alles guthieß, von allem hoch erfreut war.
    Abends, wenn sich alle um den großen runden Tisch versammelten, entwarfen Bechmetew und Anna abwechselnd in ein und demselben Zeichenblock Porträts aller Anwesenden. Auch lasen sie den Kindern abwechselnd Bücher von Jules Verne und anderes vor, wobei sie die Stellen, die für die Kinder unklar und zu schwer waren, abänderten oder erläuterten. Einmal passierte es, dass Anna statt einer illustrierten eine einfache Ausgabe der«Reise um die Welt in 80 Tagen»geschickt bekam. Bechmetew übernahm es, alle wichtigen Episoden selbst zu illustrieren, und das löste solche Begeisterung aus, dass die Kinder es kaum erwarten konnten, bis Dmitri Alexejewitsch wiederkam, um mit dem Vorlesen und Illustrieren des Buchs fortzufahren.
    Bechmetews Fürsorge und Anteilnahme an Annas Leben äußerte sich in allem. Sie liebte Blumen – er füllte ihr ganzes Haus mit den schönsten, die es gab. Sie liebte es, vorgelesen zu bekommen – er suchte interessante Aufsätze und Bücher aus und las sie ihr abendelang vor. Anna liebte ihre Schule – er schickte dorthin, wie
einer netten, naiven Lehrerin zuliebe, Bücher, Zeichnungen und diverses Unterrichtsmaterial.
    Allein ein solches Verhältnis zur Frau, liebevoll und uneigennützig, vermag vollkommenes Glück in ihr Leben zu bringen. Nie wurde Anna sich recht klar darüber, weshalb alles, was bisher schwer gewesen, jetzt leicht geworden war. Weshalb alles, was sie aufgebracht und verstimmt hatte, nun aufhörte, sie aufzubringen.

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