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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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fragend und scheu ansah, eine Aufgabe zu erklären.
    «Lidia Wassiljewna!», rief Anna sie an.
    «Ach, Fürstin, Teuerste! Was führt Sie her? So eine Überraschung. Welch eine Freude!»
    «Warum sind Sie so dünn geworden?», wollte Anna wissen und küsste die Lehrerin.
    «Es ist so schwer, Fürstin. Unannehmlichkeiten mit dem Inspektor hatte ich auch. Man gibt sein Herzblut, und dann wird nur herumgekrittelt: nicht die richtige Lektüre, nicht die richtigen
Lehrbücher. Statt für die Entwicklung des Volkes zu sorgen, halten sie es lieber möglichst dumpf.»
    Anna betrachtete das liebe bleiche Gesicht der Lehrerin, und plötzlich wurde ihr klar, wie viel besser und edler dieses von niemandem beachtete, nicht geschätzte, aufopferungsvolle und keusche Wesen war, das sein ganzes junges Leben dem Dienst an der Sache gewidmet hatte, an die es glaubte und die es über alles liebte, mehr als sich selbst. Und sie? Nie zufrieden, reich, im Luxus lebend, von ihren Kindern umgeben – womit machte sie sich irgendjemandem nützlich?
    Sich selbst zuwider geworden, überlegte Anna, ob denn dieses liebe Mädchen sein trübes Leben unbelohnt verbringen sollte, sie ihr glanzvolles hingegen unbestraft.
    Nachdem sie eine Weile dem Unterricht zugehört hatte, verabschiedete sie sich herzlich von der jungen Lehrerin und ging die ehemalige Zofe der seligen Fürstin besuchen, die jetzt, gelähmt, in Rente war.
    Die alte Frau freute sich schrecklich über Annas Besuch und begann mit ihren endlosen, so oft schon gehörten Erzählungen über die alten Zeiten, über die Hunde, die sie über alles auf der Welt liebte, wie eine Kuh nachts gekalbt und
man das Kalb ganz erfroren in den Stall gebracht hatte, dass das Moskauer Hühnchen gestern ein erstes Ei gelegt und die ganze Nacht gegackert hatte und vieles andere mehr aus der Welt der Tiere. Es war zu sehen, dass die erstarrte Existenz der Alten ganz erfüllt war von fremdem Leben, auch wenn es das Leben von Tieren war – das genügte ihr.
    «Ach ja, Mütterchen Fürstin, zum Feiertag des wundertätigen Nikolaus hatte ich gebeten, Tee zu kaufen und alles übrige, dazu ein Wachskerzchen. Nun, das habe ich für den Wundertäter angezündet zum Wohle unseres Väterchens, des Fürsten, mitsamt seiner Gattin und seinem ganzen Haus. Kaum habe ich es angezündet, da höre ich, der Verwalter schickt Leute aus, die sollen nach den fürstlichen Jagdhunden suchen. Sind davongelaufen, die Biester, in den Wald. Ich denke: ‹Lieber Gott, sie werden wegkommen zum Kummer des Fürsten.› Bete ich also zum Wundertäter: ‹Väterchen, wundertätiger Nikolaus, soll doch lieber mein Kerzchen abhandenkommen. › Eine Sünderin bin ich, Fürstin! Und was soll ich sagen – sie waren bald schon wieder da, die verflixten.»
    Anna riss sich gewaltsam von dem Gespräch mit der Alten los, kehrte nach Hause zurück, aß
mit dem Verwalter und seiner Tante zu Mittag und brach allein zu einem Spaziergang auf, der sie zu ihren so vertrauten und geliebten Orten führte. Es war eiskalt und wunderschön. An den Bäumen und Sträuchern, an den Strohdächern, an jedem Grashalm – allenthalben hing schwerer Raureif. Anna nahm den direkten Weg zu ihrer geliebten neuen Baumpflanzung; links war die Sonne bereits tief hinter die jungen Bäume gesunken, während rechts, über dem alten Eichenwald, schon der Mond aufging. Die ganze Winterlandschaft mit den weißen Baumwipfeln wurde von zwei ineinanderfließenden Lichtströmen angestrahlt: dem zartweißen des Mondes und dem hellrosafarbenen des Sonnenuntergangs; der Himmel selbst war dunkelblau, und weiter entfernt auf einer Waldlichtung glänzte reinweißer Pulverschnee.
    «Ja, das ist Reinheit! Wie schön überall, dieses Weiß in der Natur, in der Seele, im Leben, in den Sitten, im Gewissen – immer ist es wunderbar! Wie ich diese Reinheit liebe und wie ich getrachtet habe, sie stets und allenthalben zu bewahren! Und wozu? Wer hat sie denn gebraucht? Wäre es nicht besser, Erinnerungen an eine leidenschaftliche Liebe zu haben, und sei sie ehebrecherisch, dafür aber wahr, vollwertig, wäre das nicht besser
als die jetzige Leere und das Reinweiß meines Gewissens?»Anna fuhr zusammen.«Natürlich nicht, nein doch, tausendmal nein! Niemals! », hätte sie fast geschrien. Und plötzlich, als wäre sie selbst rein geworden in dieser reinen Natur, verspürte sie einen Aufschwung ihrer seelischen Kräfte wie lange nicht mehr. Es war bereits dunkel, als sie nach Hause zurückkehrte

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