Kreuzberg
Räucheraal, Dosen mit Corned Beef und Weinbrand der
Marke Asbach Uralt wurden empört herumgezeigt und fotografisch dokumentiert:
»Seht mal, die leben hier in Saus und Braus, während das Volk draußen auf der
Straße vierzig Jahre lang darben musste!«
Was sicher unverschämt war, trotzdem verstand Heini Boelter nicht,
warum nun die Kantineneinrichtung dafür herhalten musste? Wütende Männer
schlugen mit Stühlen auf Getränkeautomaten und zertrümmerten die Auslagen auf
dem Tresen. Durch geschlossene Fenster flogen Blumentöpfe auf den Hof – der
Frust auf die Stasi-Nasi wurde an Sachwerten abreagiert, was Boelter einmal
mehr am Sinn von Revolutionen zweifeln ließ. Mit einem Tischbein bewaffnet,
kämpfte er gegen die randalierende Menge an und schaffte es so zum Foyer mit
den inzwischen völlig verwüsteten Hydrokulturen zurück.
Links halten, Treppe runter!
Und keine Wachen. Der mit surrenden Neonröhren beleuchtete
Kellergang war menschenleer. Dritte Tür links, hatte der Borsalinohut gesagt,
und dann kam der ABUS -Schrauber
zum Einsatz: Akkubetriebener Westdietrich schlägt Sicherheitsschloss aus DDR -Produktion – der Weltenlauf machte
vor nichts halt. Vorsichtig öffnete Boelter die Tür und tastete nach einem
Lichtschalter. Flackernd gingen an der niedrigen Decke die Leuchtstoffröhren
an. Boelter stand in einem weiteren Gang, etwas schmaler als der erste, sonst
aber kaum unterscheidbar.
So weit zur Theorie, dachte Boelter, die Praxis sieht wie immer
anders aus. Doch dann entdeckte er kryptisch anmutende Zahlenreihen an den
Türen links und rechts des Ganges und seltsame Buchstabenkombinationen. AAA bis ACL , ACM bis AEU – ah, gut so, Boelter war beruhigt, das ging hier
ordentlich alphabetisch los, da konnte APT bis ARO nicht weit sein. Die nächste
Tür war mit AEW bis AHB beschriftet, dann folgten die Türen WCD und WCH …? Boelter stutzte: Wieso plötzlich WC ?
Dann begriff er, dass er vor den Toiletten stand, und lief zügig weiter, bis er
die gesuchte Tür mit der richtigen Buchstabenfolge fand.
Regale mit staubigen Ordnern füllten den Raum, so dicht gestellt,
dass gerade einer dieser popeligen Aktenwagen dazwischen passte, die überall im
Gang der Nutzung harrten. Vergebens, denn Boelter brauchte nur zwei Ordner, und
die würde er sich unter den Arm klemmen, sobald er sie gefunden hatte.
Aufmerksam studierte er die Beschriftungen und schlich zwischen den Regalen
hindurch.
Die Arndts schienen wahre Konterrevolutionäre gewesen zu sein, denn
es gab gleich mehrere davon: Arndt, Bernd – Arndt, Erich – Arndt, Gustav –
Arndt, Jan Fridolin, na endlich! Die Ordner aus den Jahren 1960 und 1961
befanden sich ganz unten. Boelter bückte sich und zog sie vorsichtig heraus …
… als er plötzlich den kalten Stahl eines Pistolenlaufs am
Hinterkopf spürte.
»Ganz ruhig bleiben und keine hektischen Bewegungen«, sagte eine
kühle männliche Stimme.
Augenblicklich verharrte Boelter und hielt den Atem an. Verdammt,
schoss es ihm durch den Kopf, jetzt liegt die Stasi schon in den letzten Zügen,
und trotzdem riskiere ich Trottel, in deren Kellern erschossen zu werden. Ein
Held der Revolution, später einmal werden sie Straßen und Plätze nach mir
benennen.
»Hoch mit Ihnen«, forderte die Stimme, und der Pistolenlauf löste
sich von Boelters Hinterkopf. »Ganz langsam aufstehen, nicht umdrehen und schön
die Hände zeigen.«
Boelter tat, wie ihm geheißen. Er hob die Arme und richtete sich
vorsichtig auf. In seinen Händen zitterten die beiden Aktenordner. Er hatte es
nicht gewagt, sie fallen zu lassen – Männer mit Schusswaffen können ziemlich schreckhaft
sein, und er wollte kein lebensgefährliches Missverständnis riskieren. So stand
er da, die Arme seltsam vom Körper weg angewinkelt, mit zwei Ordnern in den
Händen, die immer schwerer wurden. Ick muss einen lächerlichen Anblick bieten,
dachte er hilflos, James Bond jedenfalls macht in keinem seiner Filme so eine
komische Figur.
»Treten Sie rüber an die Wand«, sagte die Stimme ruhig, »und nicht
umdrehen.«
Boelter hörte, wie der Mann Platz machte, sodass er zwischen den
Regalen hervortreten und sich an die Wand stellen konnte. Kurz darauf wurden
ihm die Akten aus den Händen genommen.
»Was wollten Sie damit?«
»Nüscht.« Boelter zwang sich, professionell zu klingen, und starrte
an die Wand. »Ick arbeite im Auftrag.« Er hörte, wie die Ordner durchgeblättert
wurden, und überlegte, ob der Mann dafür die Waffe
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