Kreuzdame - Köln Krimi
schliefen beide nicht viel in dieser Nacht. Um vier Uhr stand Martin auf und kam nicht wieder zurück ins Bett. Ich ging ihm leise nach und sah ihn an seinem Schreibtisch vor einem Klassenfoto von damals sitzen. Daneben lag ein Blatt Papier, ein Brief offenbar, doch er drehte es schnell um, als er mich hinter sich spürte. Ich war sicher, die Schrift von Klaus erkannt zu haben. Als ich merkte, dass er weinte, legte ich meine Hand auf seine Schulter.
»Komm«, sagte ich, »komm und schlaf noch ein bisschen. Du änderst nichts mehr, und morgen musst du wieder fit sein, kein Patient nimmt Rücksicht auf die Trauer um deinen besten Freund.«
Er blieb sitzen bis zum Morgen.
Wir frühstückten schweigend, jeder bemüht, seinen Kummer zu verbergen. Als Martin das Haus verlassen hatte, ging ich an seinen Schreibtisch. Ich öffnete zwei Schubladen, schob sie dann aber rasch wieder zu und ging schnell nach unten. Was sollte schon gestanden haben in einem Brief, den Klaus an Martin, seinen besten Freund, geschickt hatte?
Wer war eigentlich meine beste Freundin? Karin? Charlotte? Oder war Anna es einmal gewesen? Aber auch Anna hatte mich nicht in ihre Geheimnisse eingeweiht, war einfach gegangen, ohne einen Brief, ohne einen Anruf, ohne Erklärungen. Beste Freundin … Nein, auch nicht Anna.
Vielleicht blieb ich zu sehr am Rande einer Beziehung, zwar freundlich, hilfsbereit, aber dennoch distanziert, beteiligte mich nie an Diskussionen über diesen oder jenen Designer und dessen neue Kreation, schwieg, wenn Charlotte und Karin sich nach dem Label ihrer Blusen und Jacken fragten – war es Gucci oder Cavalli? Der Pullover sicher von Galliano oder doch von Kors, und die Tasche – vielleicht von Vuitton? Und dieser Rock? Von Lagerfeld? Von Chanel? Nein! Sieht so gar nicht danach aus, aber das darüber, das Schrille, das ist bestimmt von Vivienne Westwood. Ich wusste nie, zu wem Marc Jacobs gehörte oder wer jetzt bei Joop das Sagen hatte. Ich kaufte meine Sachen nach Farbe und wenn sie mir gefielen und schnitt sofort die Schildchen raus, weil sie mich im Nacken kratzten. Und wenn sie sich gegenseitig beneideten um dieses oder jenes Stück, blieb ich im Abseits und dachte mir meinen Teil. Ausgeglichen nannten sie mich, belastbar und gut gelaunt.
Braucht man einen Menschen, der einem so nahe steht, dass er alles von einem weiß? Gab es unter den anderen so etwas wie eine Lebensfreundschaft? Hatte Anna damals vielleicht an Karin oder an Charlotte geschrieben und ihren Entschluss mitgeteilt, oder war sogar eine von ihnen noch immer mit ihr in Kontakt? Was wussten wir schon voneinander? Die Gespräche waren ins Allgemeine abgerutscht, selten unterbrochen von einer eigenen Meinung, die konträr zum Mainstream stand. Wir bewegten uns zwischen Sprechen und Schweigen, wir lachten zu laut und hatten keinen Mut, uns wirklich mitzuteilen, uns gegenseitig unsere Sorgen zu offenbaren.
»Sorgen, ja«, sagte Charlotte, die am nächsten Morgen bei mir vorbeischaute und der ich erzählte, was mir durch den Kopf gegangen war, »gesundheitliche Dinge beispielsweise, klar, so etwas würde ich immer offen ansprechen. Es gab doch mal diesen Film, wo der Mann arbeitslos geworden war und trotzdem jeden Morgen um sieben Uhr loszog und abends wieder heimkam, so als wäre alles wie immer – so etwas könnte man doch wirklich dem Partner erzählen. Wenn ein Mann allerdings gern in Nylonstrümpfen rumrennt und sich schminkt, da kann ich verstehen, dass er das lieber vor seiner Familie und auch vor allen anderen geheim halten möchte. Genauso wenig wird jemand Einzelheiten seiner Affäre bekannt geben oder dass er sich Abend für Abend Pornos ansieht. Das passt nicht in unser Bild vom anständigen Bürger. Da hat die Gesellschaft ihre Regeln, und die hält man, zumindest nach außen hin, ein.«
»Du meinst, jeder hat seine geheimen Ecken?«, fragte ich.
»Ja klar«, antwortete Charlotte, »geheime Winkel, die er keinem zugänglich macht, die er schützt hinter belanglosen Floskeln, die er abriegelt, vielleicht sogar vor sich selbst. Was glaubst du denn, wie solche Entführungen laufen, wenn Minderjährige jahrelang eingesperrt werden? Die Täter machen sich doch vor, dass alles in Ordnung ist, sie bringen keinen um, und selbst wenn sie die eigene Tochter siebenmal schwängern, kommt ihnen das wahrscheinlich immer noch wie selbstlose Liebe vor.«
Charlotte saß in dem großen Schaukelstuhl, der am Kamin stand und noch von Martins Großvater stammte,
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