Kreuzdame - Köln Krimi
kein Hemd, das aufs Bügeln wartete. Ich blieb vor der Truhe auf dem Boden sitzen, das Silvesterfoto vor mir, und blickte in den dunklen Garten hinaus, dessen Sehnsucht nach Sonne auch an diesem Tag nicht erfüllt worden war. Im Mondschein jagten Wolken über den Abendhimmel, verwandelten sich in immer neue Formen, schienen miteinander zu tanzen, schmiegten sich aneinander, stießen sich wieder ab, und wir rannten durch unser Leben, die steinigen Pfade der Karriere entlang, bewältigten Jahr für Jahr den Fackellauf, der uns aufs Treppchen bringen sollte, und plötzlich fällst du hintenüber und brichst dir ganz einfach das Genick, mitten im Sonnenschein, vom Lachen begleitet, das dein Leben lang um dich war.
ZWEI
Trotz ihres vorgerückten Alters beschäftigte sich Martins Mutter nie mit den Dingen der Endlichkeit.
»Sie genießt ihr Leben«, sagte Martin. »Warum auch nicht? Sie fühlt sich gut, sie scheint jenes bei den Japanern häufig anzutreffende Altersgen zu besitzen und gehört zu den Menschen, die manches überwinden, woran andere sterben. Sie hat mich großgezogen und ihren Mann überlebt. Sie ist vermögend und kann sich vieles leisten, warum sollte sie zu Hause sitzen und Trübsal blasen?«
Nicht zu Hause sitzen, aber vielleicht in früheren Zeiten mal unsere Kinder gehütet haben, wenigstens dann und wann, damit Martin und ich zusammen in die Oper hätten gehen können oder mit Freunden zum Essen, vielleicht einmal im Monat.
Sie erschien plötzlich und unerwartet, war ungehalten gewesen, wenn ich keine Zeit für sie gehabt hatte. Sie hatte sich niemals nach unserem Befinden erkundigt, hatte nicht gefragt, wie die Kinder in der Schule weiterkamen, was den Kindern zu gefallen schien, in mir aber das Gefühl hinterlassen hatte, dass wir ihr im Grunde egal waren. Sie präsentierte uns ihr Leben, die Komplimente, die man ihr gemacht hatte, über ihr Aussehen, ihre jugendliche Ausstrahlung, erzählte von Bekannten und neuen Freunden, noblen Zeitgenossen, die es weit gebracht hatten im Leben, die sich freuten, mit ihr zusammen zu sein, oder von der Studentin, die sie kennengelernt hatte, die ebenso amüsant gewesen wäre und so unterhaltsam wie meine Schwester damals bei unserer Hochzeit, wie gern dächte sie daran zurück. »Wir haben so viel gelacht, und sie ist ja bis heute eine charmante und sehr erfolgreiche Frau. Wann lädst du mich denn noch einmal mit ihr zusammen ein, oder hast du auch für solche Dinge keine Zeit?«
Manchmal war ich wütend auf sie, begann die Rahmen mit den Fotos meiner verstorbenen Eltern auf Hochglanz zu polieren, stellte sie auf Kommoden und Regale und schwärmte davon, welch wunderbare Großeltern sie hätten sein können, wenn ihnen nur einige Jahre mehr auf dieser Erde vergönnt gewesen wären, so lange, bis Martin sich einmischte mit den Worten: »Sie sind aber nun mal tot, und meine Mutter lebt!«
Daraufhin zog ich die Fotos wieder ab und mich zurück in die Sühneecke, in der ich bereit war, alle Ecken und Kanten der lebenden Großmutter zu ertragen, als Strafe für das, was ich meinen Eltern angetan hatte und von dem niemand wusste.
Es war halb zwei in der Nacht, als Martin heimkam. Als er sich neben mich auf die Couch setzte, roch ich das viele Kölsch, das er getrunken hatte.
»Er war mein bester Freund«, begann er leise. »Wir kannten uns seit der dritten Klasse, er kam aus Hamburg. Sein Vater war nach Köln versetzt worden, und weil er das S vor dem P und dem T gesondert aussprach, lachten wir ihn aus. Während der ersten Zeit saß er immer allein in seiner Bank, und in der Pause ließen wir ihn links liegen. Nach drei Wochen versuchte unsere Klassenlehrerin mir zu erklären, wie schwer es jemand habe, der anderswo herkomme. Ich sollte mir mal vorstellen, sagte sie, ich zöge um nach Hamburg und spräche das Ch wie Sch aus und die anderen würden mich auslachen, wie ich mich dann fühlen würde. Vom nächsten Tag an sollte ich mich neben Klaus setzen, und sie hoffte, ich würde Klaus integrieren.
Und tatsächlich schleuste ich Klaus durch dieses Schuljahr, und als wir in die vierte Klasse kamen, war er Klassenbester und trotzdem bescheiden, sodass ihn von da an jeder mochte. Warum hat er nicht besser auf sich aufpassen können? Er fuhr doch so sicher und so viel, so einem kann doch nichts passieren, denkt man immer … Ich will einfach nicht glauben, dass er tot ist, vielleicht ruft er morgen an und fragt: ›Doppelkopf ist bei euch, oder?‹«
Wir
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