Kreuzstein
stattfinden. Solange das Motiv noch im Dunkeln lag und Mannheimer keinen Täter vorweisen konnte, mussten sie alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, sogar terroristische Anschläge, obwohl das bislang am unwahrscheinlichsten schien.
Schweigend saß Allenstein neben der Kommissarin im Auto. Er war sich nicht ganz sicher, warum sie ihn aufgefordert hatte, sie zu begleiten. Die Geologie konnte doch eigentlich nicht der Grund sein. Hatte sie etwa Interesse an ihm? Er runzelte die Stirn. Gabriele Kronberg, die bis jetzt konzentriert gefahren war, warf ihm einen Blick von der Seite zu.
»Sie dürfen das von vorhin, als ich mich an Ihnen festgehalten habe, wirklich nicht falsch verstehen«, sagte sie ein wenig verlegen. »Ich habe schon ganz andere Dinge gesehen, das gehört zu meinem Job. Aber der Anblick vorhin hat schreckliche Erinnerungen wachgerufen.«
Allenstein blickte sie fragend an.
Hastig redete die Kommissarin weiter. »Mein Bruder, ich war zwölf, ich habe mit bloßen Händen versucht, ihn auszugraben. Er war unter einer Lawine von Sand und Kies verschüttet. Nur noch ein Fuß schaute unter dem Berg heraus.« Gabriele schluckte. »Genau wie eben. Ich war nicht darauf vorbereitet.« Sie konnte nicht mehr weitersprechen.
Allenstein spürte, wie sich sein Nacken verkrampfte. Ihm wurde eiskalt. Er dachte an seine letzte Exkursion.
»Sie sagten bei unserem ersten Telefongespräch, dass Sie mich aus der Zeitung kennen würden. Das Foto wurde aufgenommen, als ich in der Kiesgrube verschüttet worden war.«
Die Kronberg warf ihm einen Blick zu. Schweigend fuhren sie aus der Verebnungsfläche des Münsterlandes durch die Randzone des Mittelgebirges. Vor ihnen lagen in Ost-West-Richtung die Höhenrücken des Sauerlands. Gesteinsschichten, die sich vor mehr als 300 Millionen Jahren auf dem Meeresgrund gebildet hatten, waren durch die Tektonik unter extrem hohen Druck geraten, verstellt und wie eine zusammengeschobene Tischdecke in Falten gelegt worden. Aber erst vor ein bis zwei Millionen Jahren, mit der relativ jungen Heraushebung über das Niveau des Meeresspiegels, hatte die Erosion begonnen, die heutigen Geländeformen herauszumodellieren.
Unvermittelt begann Gabriele Kronberg zu sprechen. »Es gab bei uns am Niederrhein mehrere Kiesgruben. Stefan, mein kleiner Bruder, hatte eine Höhle in den Sand gegraben. Irgendwann gab der ganze Hang nach.«
»Diese Bilder brennen sich ins Gedächtnis ein.« Vor Allenstein tauchte das Gesicht von Helga auf, wie sie leblos am Seil hing, blutend, bereits in einer anderen Welt.
»Hat Sie mein Unfall auch an Ihren Bruder erinnert?«
Kronberg nickte.
Henno schaute aus dem Seitenfenster auf die Ruhr, die sich träge durch die Mittelgebirgslandschaft schlängelte. Halbherzig versuchte er die geologische Karte, die er von diesem Gebiet im Kopf hatte, auf die einzelnen Bergrücken zu übertragen. Eine Zeit lang sagte keiner etwas. Beide waren mit ihren Gedanken in der Vergangenheit.
»Dort drüben auf der anderen Talseite liegt das Haus meines Vaters, direkt an der Stadtgrenze von Arnsberg, und da hinten beginnt die Weihnachtsbaum-Wüste.« Kronberg zeigte nach vorn auf riesige Jungwaldflächen, die dicht an dicht mit Nordmanntannen bestanden waren.
»Ich weiß nicht, ob die Religionsstifter das gewollt haben«, entgegnete Henno leicht frustriert. »Sind Sie als Kommissarin eigentlich religiös?«
»Das hat doch nichts mit dem Job zu tun. Aber um Ihre Frage zu beantworten, nein, nicht wirklich, meist nur zu Weihnachten.«
»Ich glaube schon, dass es auch etwas mit dem Beruf zu tun hat. Als Naturwissenschaftler ist man zum Beispiel darauf konditioniert, tagtäglich seine Aussagen auf Stimmigkeit und Reproduzierbarkeit zu testen. Alles, was Sie behaupten, müssen Sie durch harte Fakten belegen können. Sonst würden Sie völlig unglaubwürdig werden und wären in kürzester Zeit raus aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Wenn man unsere Religion verstehen will, muss man sich die Zeit vorstellen, in der sie entstanden ist. Eine Zeit, in der Menschen geglaubt haben, die Erde sei eine Scheibe, um die sich die Sonne dreht. Sie wussten doch gar nichts von Physik, Chemie, Biologie und Evolution, ganz zu schweigen von Psychologie mit all ihren Facetten. Für diese Menschen war die Religion das Gerüst für soziale Systeme, für Ethik. Aber heutzutage sind die Voraussetzungen doch völlig anders. Ich kann mich nicht abends ins Bett legen und anfangen, Dinge zu glauben, die in
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