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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Broeckhoven
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öffnen und stünde einfach wieder in meinem alten Rock und meiner Bluse in der muffigen Kapelle. Beschwingt würde ich nach draußen gehen und vom Sonnenlicht überflutet werden. Mit einem Lied auf den Lippen würde ich nach Hause radeln, wo meine Mutter in der Küche herumhantierte. Alle Augen auf ihrem Rücken würden mir entgegenlachen. Ich wäre einfach ihr Kind, und das meines Vaters.
    Doch das Wunder blieb aus. Als ich draußen inmitten meiner quasselnden Klassenkameraden stand – am Karfreitag um Viertel nach drei –, fühlte ich mich immer noch schwerfällig und schlecht, war ich noch immer siebzehn und ratlos.
    «Allen schöne Ferien!», rief ich möglichst aufgeweckt und strampelte mit dem Rad zu Omas Haus. Ruhe wollte ich, alleine sein. Meine Befürchtungen, so gut es ging, verscheuchen.
    Als ich Wasser aufsetzte, weil ich in der kleinen Küche einen Tee trinken wollte, bemerkte ich, dass der Weidenzweig schon Wurzeln gezogen hatte. Auf dem Flaschenboden hatte sich inzwischen ein richtiges Nest weißer Würmchen gebildet. Während ich mir die Geigengesichter auf dem Ei, das ich in meiner Handfläche hielt, genauer ansah, stieß mir jemand wie aus dem Nichts ein scharfes Messer in den Unterleib. Die Schale zerbrach in lauter kleine Scherben, die an meinen Fingerspitzen haften blieben. Ich spürte, wie eine laue Flüssigkeit meine Oberschenkel hinabrann, bis in meine Socken hinein. Um meine Füße herum bildete sich eine kleine Lache. Bevor ich nach oben ging, wischte ich alles ordentlich auf.
    Ahnungsvoll legte ich mich in meinem Muttermuseum aufs Bett, darauf wartend, was als Nächstes geschehen würde. Ich flehte Mama an, mich nicht im Stich zu lassen. Dieses Mal nicht. Dann schlief ich ein, in der Hoffnung, nie mehr aufzuwachen.
    Der reißende Schmerz und das beruhigende Geräusch der nächtlichen Züge flossen zu einem unauflösbaren Ganzen zusammen. Fern, näher. Die Eisenräder fuhren über mich hinweg. Durch mich hindurch. Ich wurde regelrecht gerädert. Zug um Zug. Schmerz um Schmerz. Das eine ergänzte das andere, bis es miteinander verschmolz. Wieder anschwoll. Wieder abnahm. Ein Heranbrausen und in der Ferne Verlöschen.
    Es war bereits nach Mitternacht, als mein Körper sich zu spalten schien und ich ins Badezimmer stolperte. Ich ließ die Wanne halb volllaufen. Zog meine Kleider aus. Nahm Omas Frisierschere aus dem Schrank. Mein Bauch lebte, bewegte sich. Meine Haare, die mir in feuchten Strähnen auf der Stirn und im Nacken klebten, band ich mit einem Gummi zusammen. Ich legte ein paar alte Handtücher zurecht, entdeckte dabei ein flauschiges weißes Badetuch unten im Stapel. Das legte ich beiseite. Das warme Wasser schloss sich um meine brennenden Glieder, ließ mich den Schmerz für einen Moment vergessen. Nur ganz kurz. Bis die nächste Welle anrollte.
    Ich stemmte die Füße fest gegen den Badewannenrand. Hielt den Atem an, bis es nicht mehr ging. Dann presste ich mit zwei, drei Schüben das Kind aus mir heraus. Die flatternden Arme verursachten einen Sturm in dem rot gefärbten Badewasser. Fingerchen schlossen sich gierig um meinen Zeigefinger, auf der Suche nach Halt. Wie ein nach Luft schnappender Fisch landete es auf meiner Brust. Durch meine Tränen hindurch sah ich, es war ein Junge. Mein Junge. Ich streichelte seinen zarten Rücken, fuhr über seinen dunklen Haarflaum.
    Es war vollbracht.
    Dass das Durchtrennen der bläulichen Nabelschnur nicht wehtat, wunderte mich. Dass eine Weile später noch ein großer blutiger Batzen aus meinem Körper glitt, ebenso. Aber es hielt mich nicht davon ab, zu tun, was getan werdenmusste. Mit zittrigen Beinen stieg ich aus der Wanne, das Kind fest an meine Brust gedrückt. Ich tupfte es mit einem von Omas uralten Handtüchern trocken, wickelte es anschließend in das flauschige Badetuch.
Reines Linnen
. Aus einer Packung, die seit Monaten ungeöffnet im Schrank gelegen hatte, schnappte ich mir eine Monatsbinde. Endlich.
    Erschöpft streckte ich mich auf meinem Bett aus. Das Kind roch nach frischem Brot und warmem Gras. Es atmete. Es lebte.
    Ein paar Stunden später wurde ich von einem Schmatzen geweckt, das von meiner Brust herkam. Neue Schmerzensschübe schossen durch meinen erhitzten Körper. Es war halb vier. Von draußen drang das unaufhörliche Kedeng-Kedeng eines Güterzugs herein. Ich betrachtete das ernste Gesichtchen, die geschlossenen Lider, die wie milchweiße Muschelschalen aussahen. Manchmal sehe ich dieses Bild noch heute wieder vor

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