Kreuzweg
Schimmer.
«Kind, du kommst ja wie gerufen!», sagte sie, noch bevor ich einen Ton hatte sagen können. Sie erkannte mich an meiner zögerlichen Art anzuklopfen und die Türe aufzudrücken. Niemand schlich sich ihrer Meinung nach derart bescheiden in einen Raum wie ihre einzige Enkelin. «Auf der Fensterbank liegt ein Palmzweig, der gerade erst geweiht wurde. Sei doch so lieb und steck ihn eben hinter das Jesuskreuz. Heute ist schließlich Palmsonntag.»
Nachdem ich die Schuhe von den Füßen gekickt hatte, stieg ich auf einen Stuhl, um den Zweig hinter den Rücken des metallenen Christus zu stecken, der oberhalb des Türrahmens hing. Ich überlegte, welchen Unterschied es wohl machte, wenn Oma in einer leeren weißen Zelleanstatt in diesem Raum voll vertrauter Gegenstände aus ihrem alten Haus säße.
«Dein Vater war heute Morgen hier. Mit seiner neuen Errungenschaft», sagte sie abfällig. «Sie hatte selbst gebackenen Rührkuchen dabei. Ich habe ein Stückchen davon für dich aufgehoben.»
Auf dem Tisch stand eine mit Wasser gefüllte Flasche, in der ein noch blattloser Zweig einer Schlangenweide steckte. Daran hing an einem gelben Bändchen ein Ei, das etwas größer war als ein durchschnittliches Hühnerei. Sanft schwang es hin und her, als ich dagegen blies. Es waren Geigen mit lachenden Gesichtern daraufgemalt.
Während ich die blauweißen Tassen abstellte, dieselben, aus denen ich in ihrem Haus trank, weil wir das Service ehrlich in zwei Hälften geteilt hatten, meinte Oma: «Tu mir bitte den Gefallen und nimm später dieses selbst gebastelte Ding mit, ja? Hier im Zimmer stört es nur. Wenn ich es umstoße, wird die ganze Decke nass. Was soll ein alter Mensch wie ich überhaupt mit so einem ausgeblasenen Ei? Es kann bloß zerbrechen …»
War da ein Hauch Bitterkeit in ihrer Stimme? Aber dann sagte sie kichernd: «Sie meinen es natürlich gut, aber ich hätte lieber ein Schokoladenei gehabt, statt ein angemaltes, das ich ja doch nicht sehen kann.»
«Voilà!», sagte ich, indem ich ihr die goldene Schachtel auf den Schoß stellte, die ich mitgebracht hatte. «Ihr Wunsch ist mein Befehl!»
Dann aßen wir zusammen alle Bonbons auf, bis auf drei, die ich ihr daließ. Ein Stündchen später fuhr ich mitdem Rad nach Hause, das zerbrechliche Gänseei in der kleinen goldenen Schachtel, gestützt von ein paar zerknüllten Papiertaschentüchern. Den Weidenzweig hielt ich wie eine Trophäe in der Hand. In Omas Küche steckte ich ihn in eine leere Colaflasche und hing das Ei am Bändel daran auf. Es lebe die Gemütlichkeit, sagte ich zu mir und zu den grinsenden Geigengesichtern.
ZWÖLFTE STATION:
J. stirbt am Kreuz.
Die Schüler des Abiturjahrgangs schlurften pflichtgemäß und mit dem entsprechenden Gesichtsausdruck durch die alte Schulkapelle. Nach dem gemeinsamen Kreuzweggebet würden die Osterferien beginnen: vierzehn Stationen, vierzehn düstere Gemälde, die die verschiedenen Stationen des Leidenswegs Christi darstellten. Die fünfzehnte, die Wiederauferstehung, habe man erst später hinzugefügt, erklärte uns der Schuldirektor, weshalb sie auch in besonders alten Kirchen noch nicht abgebildet sei. All das ging an mir vorbei, trotzdem war mir, als dringe die Bedeutung meines persönlichen Leids mit jeder Station tiefer zu mir durch.
Ich watete durch den luftleeren Raum und fühlte mich elend. Die Steinplatten in der Kapelle wellten sich unter meinen Schritten. Unter meiner Bauchdecke war Bewegung.
«Sechste Station: Veronika reicht Jesus das Schweißtuch»,
hallte es durch den Raum. Hinter dem Rücken des Rektors sah ich, wie manche meiner Klassenkameraden mit den Augen rollten. Ein Mädchen holte ein Taschentuch hervor, mit dem sie sich übertrieben die Stirn tupfte. Ich bekam einen Schweißausbruch. Meine Beine begannen zu schwanken, ich brauchte etwas zum Hinsetzen.
«Alles in Ordnung mit dir? Du bist so bleich.»
Matteo stand neben mir.
«Ist vielleicht die Magen-Darm-Grippe …», flüsterte ich und schleppte mich zur nächsten Station.
«
Jesus wird seiner Kleider beraubt und mit Galle gelabt.
»
Ich musste schlucken. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Noch vier Bilder.
Ich schaffte es. Nachdem «
Josef von Arimathäa den Leichnam Jesu in reines Linnen gewickelt und in das Grab gelegt hatte, das er selbst aus einem Felsen gehauen hatte
», hoffte ich auf ein Wunder, das das Unausweichliche doch noch verhindern würde. Ich hoffte es inständig und mit aller Kraft.
Ich würde die Augen
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