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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Broeckhoven
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wollte, nahm sie dennoch ihren Platz in dem Haus ein, in dem ich wohnte. Davor graute mir.
    Ich sagte irgendwas wie «Oh» oder «Tja», so genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls irgendetwas, das in einem Atemzug aus mir herauskam.
    «Ist das alles?», wollte er wissen. «Freust du dich denn nicht für mich?»
    «Ich freue mich sehr für dich», echote ich, als ich meine Sprache wiedergefunden hatte. «Ich bin froh, dass du wieder glücklich bist.»
    Er strahlte richtig. Die Liebe hatte ihn noch blinder als Oma Gleis gemacht. Die Geisha hatte ihn aufgetaut. Er holte sein Portemonnaie hervor und legte ein paar Geldscheine auf den Tisch.
    «Hier», sagte er, «kauf dir mal was Schönes zum Anziehen, etwas Modernes, statt immer mit dem abgetragenen Zeug deiner Mutter herumzulaufen. Wir werden demnächst Gäste zum Essen einladen, um die Wende in meinem Leben zu feiern. In unserem, meine ich natürlich.»
    Die Wende in seinem Leben. Als ob hier Weltgeschichte geschrieben würde.
    «Wer kommt denn? Bekomme ich etwa noch Stiefbrüder oder Halbschwestern dazu?»
    Mein Vater grinste, was mich ebenfalls überraschte. Bisher kannte ich nur sein sparsames Lächeln, die Lippen zu einem strengen Strich geformt.
    «Aber nein, wir laden bloß ein paar Freunde zu uns ein. Ina hat keine Kinder.» Er murmelte noch etwas über ihre biologische Uhr, aber ich schloss die Ohren.
    «Tja, dann geh ich mal wieder», sagte ich, während ich die Geldscheine faltete und in meine Jackentasche steckte. Etwas Ordentliches zum Anziehen habe ich mir dafür nicht gekauft. Zur Feier der Wende – mit ihren Freunden, weil mein Vater überhaupt keine hatte – erschien ich in einem bunten Hippierock, darüber trug ich eine lila Häkelweste meiner Mutter. Die gepflegt gekleidete Gesellschaft, von der mir kein einziges Gesicht in Erinnerung geblieben ist, belächelte einhellig meinen Künstlergeschmack.Sie waren sich alle darin einig, dass ich in die Fußspuren meines Vaters treten würde. «Den Kunstmaler» nannten sie ihn! Und er strahlte. Seine Hand tanzte über den in Seide gehüllten Rücken der Geisha. Eines jedoch war mir völlig klar: In Sachen Kunst würde ich seinen Fußspuren tunlichst aus dem Weg gehen. Ich wollte meine eigenen hinterlassen.

ELFTE STATION:
J. wird ans Kreuz geschlagen.
    Von den Monaten zwischen Weihnachten und Ostern erinnere ich mich vor allem an die Verzweiflung, die mir wie ein Schatten überallhin folgte. Zwischen mir und dem Rest der Welt entstand eine Kluft, die ich außerstande war zu überbrücken. Fast zehn Kilo hatte ich zugenommen. Dem Himmel sei Dank hatten sie sich gleichmäßig über meinen ganzen Körper verteilt. Ich aß kaum etwas, naschte nicht und trank ausschließlich Wasser oder Tee. Trotzdem unterstellte mir jeder, ich stopfe Schokolade und Gebäck in mich hinein als Trost für meinen Verlust. Manchmal fing ich Gesprächsfetzen auf, vor allem in der Schule:
Kein Wunder. Erst die eigene Mutter verlieren und dann gleich eine Stiefmutter bekommen. Sie lässt sich gehen. Ist einsam. Unverantwortlich. Total verständlich …
    Abends im Bett fuhr ich mit den Händen über den Fleischberg, zu dem ich geworden war, und teilte meinen Körper in imaginäre Zonen ein: ein bis zwei Kilo extra, gleichmäßig auf beide Brüste verteilt. Dasselbe bei meinen Hüften. Plus eineinhalb Kilo am Bauch. Ein knappes Pfund an Hals und Wangen. Der Rest saß in meinen angeschwollenen Fesseln und den gepolsterten Handrücken.
    Tagsüber versteckte ich mich in den Pullis meiner Mutter, die ich über eine der beiden dunklen Jogginghosen trug, die ich mir von dem Geld meines Vaters gekaufthatte. Den Gummizug konnte ich bis über meinen überquellenden Bauch ziehen. In meinem Körper herrschte ständig Bewegung. Den ganzen Tag hindurch spürte ich winzige Explosionen in meinem Inneren. Es fühlte sich an, als liefen da Flüsse durch ihre Betten oder als zögen Unwetter auf. Manchmal verhärtete sich meine Bauchwand und eine kleine Bergspitze wölbte sich nach außen, um gleich darauf ebenso geheimnisvoll wieder zu versinken, wie sie aufgetaucht war.
    Ich machte mir selbst weis, eines schönen Tages werde es einfach vorbei sein. Ich glaubte tatsächlich, ich bekäme meine Monatsblutungen wieder, würde eines Morgens einfach rank und schlank aufstehen und wieder geradeaus denken können, statt auf zwei Ebenen. Ich betrog mich selbst und die ganze Welt gleich mit. Manchmal nahm ich mir vor, zu einem Arzt zu gehen, einem anderen als

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