Kreuzweg
unserem. Aber warum? Schließlich war ich nicht krank. Bloß dick. Und schlapp. Und verzweifelt.
Die Schule war eine Katastrophe. In meiner Bank hängend, schlug ich Bücher oder Mappen auf, notierte Hausaufgaben in meinen Kalender, die ich zu Hause nicht mehr begriff. Ich konnte mich auf nichts mehr konzentrieren: Jeder Gedanke, der in mir aufkeimte, führte schließlich immer an denselben Ort in meinem Inneren.
An den Turnstunden nahm ich nicht mehr teil, unter dem Vorwand, ich hätte wegen meiner Periode Rückenschmerzen. Letzteres war übrigens nicht gelogen. Umkleideräume gab es nicht, also zogen die Mädchen ihreSportkleidung in der Sporthalle an, die Jungen im Klassenzimmer. Ich wollte auf gar keinen Fall, schwerfällig wie ich war, noch einmal inmitten meiner Klassenkameradinnen mit ihren aufreizenden BHs und Höschen stehen müssen. Es sollte keiner die Gelegenheit bekommen, meine Fleischmassen genauer zu begaffen. Denn das taten sie, sogar dann noch, wenn ich meine Sporthose und das T-Shirt schon unter meinen normalen Kleidern angezogen hatte. Ich spürte ihre brennenden Blicke auf mir, hörte die unausgesprochenen Bemerkungen.
Der Sportlehrer verlangte ein ärztliches Attest, doch ich behauptete wochenlang, ich hätte es zu Hause vergessen. Schon wieder. Entschuldigung. Nächste Woche bringe ich es bestimmt mit. Frau Mortelmans, auch «Mops» genannt, begann, sich einzumischen. Sie bat mich um eine Unterredung in unserem leeren Klassenzimmer, von Frau zu Frau. Als sie mir die Hand auf die Schulter legte und leicht hineinkniff, brach ich beinahe in Tränen aus.
Sie fragte, ob es keine gute Idee sei, einmal mit jemandem über das zu reden, was mich bedrückte? Mit einem Psychologen. Oder vielleicht mit ihr? Denn meine Schulergebnisse hätten sich ziemlich verschlechtert. Ich gehörte nicht mehr richtig zur Klasse. Mein Engagement sei gleich null, obwohl sie wusste, wie intelligent und lerneifrig ich war. Und so weiter und so fort. Ich starrte nach draußen, bis sie zu Ende geredet hatte, unterdrückte meine Tränen und meinte nur, ich hätte eben momentan ein Tief. Wegen meiner Mutter. Ja, natürlich. Aber es hätte auch mit meiner Studienwahl zu tun. Mit der Zukunft. Ich wüsstenicht, was ich wolle, aber das würde ich schon noch herausfinden, versprach ich mit meinem breitesten Lächeln, während ich gleichzeitig den Bauch einzog. Ich wisse es zu schätzen, dass sie mir helfen wolle.
Während der Frühlingsferien übte ich mich im Unsichtbarmachen und sah kaum jemanden. Sogar Matteo verschwand irgendwie von der Bildfläche. Mit verträumtem Blick erzählte er mir, er habe sich in seinen Gitarrenlehrer verliebt, der zehn Jahre älter und gerade erst damit an die Öffentlichkeit gekommen sei. Sie wären wie füreinander geschaffen. Bald würde er mir seine große Liebe vorstellen. Er sei phantastisch. Er. Er. Er.
Matteo, mein sanftmütiger Freund. Ich vermisste ihn zwar, aber es passte mir eigentlich ganz gut, dass er sich nicht mehr allzu oft in meiner Nähe aufhielt.
Äußerlich ruhig, doch innerlich ratlos, spazierte ich oft die Bahnschienen hinter Omas Haus entlang. An den Böschungen wuchsen Mohnblumen und Margeriten. Die blühenden Gräser streichelten meine Waden. Überall um mich herum war surrendes und wuselndes Leben.
Wenn in der Ferne ein Zug auftauchte, dachte ich manchmal «Jetzt!». Manchmal schrie ich es sogar hinaus. Es konnte mich ja doch keiner hören. Jetzt! Das Wort drehte sich um seine Achse und platzte unter den Rädern auseinander. Ein rauschender Moment, und alles wäre vorbei. Ein Wimpernschlag, und ich würde – wie meine Mutter – aus dem Leben herauskatapultiert werden, hinein in die Ewigkeit. Wir würden einander wiederbegegnen, ichwürde ihr endlich alles erzählen. Sie würde mir zuhören. Mich trösten. Nur ihr würde das gelingen.
Es blieb bei dem Gedanken. Jedes Mal stand ich totenstill da, während sich die monotone Kadenz des Zuges in meinem Körper fortsetzte.
Am Sonntag vor Ostern besuchte ich Oma Gleis in ihrem Heim. Sie sah aus, wie aus dem Ei gepellt. Ich vermisste beinah die Suppen- und Kaffeeflecken auf ihrer Bluse, die Kekskrümel auf ihren Füßen oder die Stofftaschentücher, die sonst wie Fähnchen aus ihrer Schürzentasche hingen. Sie trug eine blütenreine Bluse, deren Bändel unter dem Kinn zu einer Schleife gebunden waren, und einen dunkelgrünen Rock über einer glatten Nylonstrumpfhose. Ihre Haare hatten jetzt einen leicht lila
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