Kreuzzug
natürlich nicht dort stehen, wo Kerstin Dembrowski ihn haben wollte. Er wollte unbedingt mitbekommen, was im Tunnel und im Zug geschah. Also schlich er ihr nach. Wenn gleich dort vorn im Tunnel ein Schusswechsel losbrach, konnte er immer noch zum Seil zurücklaufen und zusehen, dass er so schnell wie möglich nach unten gelangte. Er war sich nicht sicher, ob ihm das genauso gut gelingen würde wie vor ihm der Frau im roten Overall, aber er würde es schon schaffen.
Als Thien schließlich in den Tunnel blickte, sah er, wie Kerstin Dembrowski auf die beiden älteren Amerikaner zuschlich, die mit dem Rücken zu ihr auf dem Gleis saßen. Einen Meter von ihnen entfernt, streckte sie die Hand nach dem Mann aus, um ihn an der Schulter zu berühren.
In dem Moment schnellte die Frau zu Kerstin Dembrowski herum, zog sie an der MPi, deren Riemen um Kerstin Dembrowskis Schulter lag, weiter nach unten – und schlitzte ihr mit einem Messer die Kehle auf.
Die Frau im roten Oberall gurgelte. Es war ein Laut, der zugleich nach Schmerz und nach Verwunderung klang. Dann kippte sie nach vorn.
Craig begann sofort, ihre Taschen zu durchsuchen. Und seine Frau ging entschlossenen Schrittes in Thiens Richtung. Noch immer hatte sie das bluttropfende Messer in der Hand.
Thien musste sich von der unglaublichen Szene losreißen. Sein Gehirn hatte die Bilder noch nicht verarbeitet, die seine Augen gerade gesehen hatten. Die ältere Amerikanerin mit dem Messer in der Hand näherte sich schnell. Ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass sie gerade an einem Zeugenbeseitigungsprogramm arbeitete. Und der nächste Zeuge auf ihrer Liste war Thien.
Als er sich endlich aus seiner Erstarrung lösen konnte, hechtete er durch die Kaverne in Richtung Seil. Er klemmte es in die an seinem Gurt befestigte Seilbremse und ließ sich nach unten fallen, ohne eine Zehntelsekunde zu zögern. Mit mächtigen Sprüngen federte er die Wand hinab.
Beim dritten Auftreffen seiner Stiefel auf dem Stein landete er auf einem etwas breiteren Felsband. Die glatten Sohlen der Skistiefel rutschten auf dem Eis, mit dem die Oberfläche des Vorsprunges überzogen war, weg, und er schlug der Länge nach seitlich auf. Als er sich wieder aufrappeln wollte, sauste das oben durchgeschnittene Seil an ihm vorbei.
Er streckte sich ganz schnell flach auf dem Felsband aus, das nicht breiter als ein Bierzelttisch war, damit ihn das Gewicht des fallenden Seiles nicht aus dem Gleichgewicht brächte und nach unten riss. Dann suchte Thien einen Vorsprung, an dem er das Seil befestigen konnte.
Tatsächlich befand sich zwei Meter neben ihm ein kleiner, aber ziemlich deutlicher Felszacken. Thien wischte mit den Händen den Schnee davon, nahm das Seil aus der Seilbremse – beinahe wäre es ihm aus den eiskalten und steifen Händen geglitten –, legte es um den Felskopf, dann hängte er sich wieder ins Seil ein, das jetzt ein Doppelseil war.
Kaum, dass er wieder aus der Wand sprang und von oben zu sehen war, ratterte es dort los, und Kugeln pfiffen ihm um die Ohren. Eine zerfetzte die Außentasche an seinem linken Arm, in der er Liftpässe aus aller Herren Skiresorts aufbewahrte, von La Grave bis Lake Tahoe. Er fragte sich nicht, ob ihm der Stapel Plastik einen Streifschuss oder gar einen Durchschuss des Oberarms erspart hatte, er musste schleunigst aus dem Schussfeld heraus.
Auch von unten hörte er das Rattern einer MPi. Er sah durch seine Beine runter. Fünfzig Meter unter ihm stand ein Soldat in Wintertarnanzug und schoss nach oben. Auf das Tunnelfenster, wie Thien hoffte, nicht auf ihn. Offenbar irrte er sich nicht, denn oben brachen die Schüsse ab. Noch zwei Sprünge, und Thien landete neben dem Gebirgsjäger , der ihn sofort an die Wand drückte, wo die Kugeln nicht hingelangten.
»Was ist dort oben los?«, fragte der Mann.
»Wenn ich das wüsste«, antwortete Thien atemlos.
»Na los, Mann!«, herrschte Mainhardt den Zivilisten an. »Machen Sie Meldung!«
Obwohl Thien nie gedient hatte, verstand er, was man von ihm wollte, und er legte los: »Voller Zug, zwei Bewacher, die Frau im roten Overall ist tot. Zwei ältere Amis haben sie umgebracht. Die Frau war’s. Gehören vielleicht zu den Geiselnehmern. Man kommt seitlich rein und raus aus dem Tunnel. Sie müssen die Leute da rausholen. Falls noch jemand von denen lebt.«
In dem Moment zerriss eine Detonation die Stille, die den Eibsee eingehüllt hatte.
Kapitel hundertdreißig
Eibsee-Hotel , 15 Uhr 20
D as
Weitere Kostenlose Bücher