Kreuzzug
von Mi Pueblo waren am Salzsee mit Schrotflinten aufgewachsen, mit denen schon ihre Großväter auf Geier und Kormorane geschossen hatten. Von diesen tödlichen Preziosen, die sie hier fürs Schießtraining zur Verfügung hatten, waren sie natürlich fasziniert. Besonders José mussten sie die Waffe nach jeder Trainingseinheit nahezu aus den Fingern reißen; er hätte sich am liebsten mit einer H&K MP 5 in den Armen schlafen gelegt, wenn er schon keine Frau neben sich haben durfte. Doch auch die hochmoderne MP 7 , die für Nahbereichsgefechte entwickelt worden war, hatte es José angetan. Sie war so klein und leicht wie eine normale großkalibrige Pistole, hatte aber die Durchschlagskraft eines Sturmgewehrs. Er konnte es nicht erwarten, mit einem solchen »Corazón«, wie er das handliche Teil jedes Mal begrüßte, wenn er es aus den Waffenkisten erhielt, in den Einsatz geschickt zu werden.
Pedro und Carlos, einer der beiden Cousins von Pedro und José, interessierten sich für Sprengstoffe mehr als für kaltes Metall. Sie sogen alle Informationen über explosive Stoffe, die ihnen die Ausbilder boten, wissbegierig in sich auf. Sie wussten, dass, wenn sie in einen Einsatz geschickt würden, es mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Sprengstoffattentat ging. Und sie hofften das auch sehr. Denn es würde in ihre eigenen Pläne viel besser passen als ein Flugzeugabsturz auf einen Atommeiler oder eine Giftgasattacke auf ein Volksfest oder eines der anderen Szenarien, die sie tagein, tagaus übten.
Dann kehrten sie in die Heimat zurück. Mit einem Auftrag. Bald sollten sie ihn ausführen. Sie würden ihn zu ihrem eigenen machen. Fast zehn Jahre waren ins Land gezogen, seitdem Pedro sie zum ersten Mal in der alten Hütte auf dem Salzsee versammelt hatte.
Sie waren andere geworden.
Keine Jungs mehr. Und weit mehr als nur Männer.
Sie waren Krieger geworden.
Kapitel einunddreißig
Waggon der Zugspitzbahn , 15 Uhr 14
T hien musste mal. Es half alles nichts, das war schon immer so gewesen. In der Volksschule in Partenkirchen, später auf dem Werdenfels-Gymnasium. Immer, wenn es brenzlig wurde, sei es, dass eine Mathematik-Prüfung anstand oder er beim Sportfest zum Hochsprungstechen über 1 , 80 Meter gegen den fast drei Köpfe größeren blonden Lokalmatador der Leichtathletik-Gemeinschaft Garmisch antreten musste, Thien Hung Baumgartner musste erst einmal pinkeln.
Einmal hätte er dadurch beinah den ersten großen Fernsehauftritt seiner Nachwuchs-Schuhplattler-Gruppe im Trachtenverein Partenkirchen geschmissen: Der Regisseur hatte ihn in die erste Reihe gestellt, denn ein Asiat in Partenkirchner Tracht war seiner Meinung nach – und nicht nur seiner – etwas Besonderes. Als die Live-Sendung der »Klingenden Trachtenalm« aus dem ausverkauften und auf Jodlerambiente getrimmten Garmisch-Partenkirchner Eisstadion beim Programmpunkt »Jugendliches Schuhplatteln« angekommen war, stand seine gesamte Gruppe auf der Bühne. Nur dort, wo der asiatische Trachtlerbub stehen sollte, klaffte eine Lücke: Thien Hung Baumgartner war in den Katakomben des Stadions verschwunden und kämpfte mit den Hirschhornknöpfen der extra zu diesem Anlass neu angefertigten Lederhose. In letzter Sekunde brachte er die noch streng durch die engen Knopflöcher zu zwängenden Knöpfe auf, erledigte sein Geschäft, machte die Knöpfe wieder zu und rannte durch die Gänge des Eisstadions auf die Bühne. Just als bei der Kamera, die mittlerweile auf seinen Nachbarn Simon Hinterstocker, genannt Simmerl, gerichtet war, das Rotlicht für die erste Einstellung aufleuchtete, zwängte er sich auf seinen vorgesehenen Platz. Der dickliche österreichische Moderator der »Klingenden Trachtenalm« hatte zwei Minuten Gespräch mit dem asiatischen Kind in Tracht vor dem Auftritt der Plattlergruppe vorgehabt.
Ein großer Teil des Erfolges seiner Sendung beruhte auf dem Vorzeigen und Abbusseln von unschuldigen Kindern. Bei den Proben hatte er Thien eine Reihe dämlicher Fragen wie etwa der nach der Herkunft des »kleinen Chinesen« gestellt, die darin gipfelten, dass der schwitzende Mann grinsend hatte wissen wollen, ob der Kleine auch die Spitzen der hohen Berge seiner Umgebung mit seinen Augen sehen könne, denn die seien ja so schmal geschnitten, »eher etwas fürs Breitbildformat«.
Thien war während dieser Proben immer einsilbiger geworden, denn auch als Zwölfjähriger hatte er den volkstümlich daherkommenden Rassismus durchschaut und sich geweigert,
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